#2
„Ich verstehe“, sagte sie halblaut, als Donnovan ihr die Umstände klar zu verstehen gab, und neigte ihren Kopf ein Stück hinab, beinahe schon demütig. Schließlich öffnete sie ihren Mund erneut für einen kurzen Augenblick, holte bereits Luft, um anzusetzen, etwas zu sagen, doch brach sie ihre erdachten Worte ab, ehe diese ihren Mund verlassen konnte. Der Mann hatte Recht. Es war ein Ratschlag gewesen, vielleicht der erste gut gemeinte, den sie seit langer Zeit erhalten hatte. Letztlich bestätigten seine Aussagen nur das, was sie von dieser Gesellschaft sehen konnte. Bislang hatte sie nicht sicher sein können, ob sich der Umgang mit ihr auf ihren derzeitigen schlechten Status als räumlich Gefangene oder auf etwas anderes bezog. Langsam setzten sich einzelne Puzzlestücke aber zu einem klareren Gesamtbild zusammen, zumindest in manchen Dingen. Diese Gesellschaft schien – aus welchen Gründen auch immer – ein gewisses Problem mit Nichtmenschen zu haben. Erst jetzt wurde Sedrael auch bewusst, dass alle Personen, die sie bislang sehen konnte, in der Tat auch Menschen gewesen waren. Wo das zunächst Zufall hätte sein können, schien diese Gleichförmigkeit innerhalb des militärischen Apparats nun aber nicht nur auf den geistigen Aspekt zu beziehen, sondern offensichtlich auch auf einen rein physischen. Selbst eine möglicherweise weniger gleichgeformte Person wie Rupert Donnovan schien sich dem nicht vollständig entziehen zu können. Xenos – also Fremde – implizierte schließlich, dass man also in bestimmter Form dem Menschen fremd sein musste, dass man in etwas eingedrungen war, das einem nicht selber, sondern jemand anderem von Rechts wegen zustand. Doch worin sollte ihre Fremdheit liegen? Sedrael war auf Firrerre geboren, aufgewachsen, zumindest einige Jahre und schlussendlich wiedergekehrt. Dort war sie herausgestochen, die Weiße, ihre Erscheinung, der sie letztlich auch ihren Rufnamen verdankte, nachdem Firrerre ihren echten Namen aus kulturellen Gründen an fast niemanden weitergaben. Und trotz ihrer Sonderrolle als Mischkind in der firrerrischen Gesellschaft hatte man sie akzeptiert. Es hatte kein fremd gegeben. Fremd war, wer von außen kam und wen man nicht kannte. Jeder der Soldaten war an jenem Ort fremder gewesen, war mehr Xeno als sie es hätte sein können.

Fremd? In einer Galaxis mit tausenden verschiedenen intelligenten Spezies, manche zu kulturellen Leistungen imstande, von denen Menschen nicht einmal träumen konnte, andere von körperlicher Robustheit, dass sie Dutzende von Menschengenerationen überdauerten, war Fremdheit aber ohnehin ein leeres Wort. Mit welcher Berechtigung mochte man eine Fremdheit erklären, andeutend, dass eigentlich nur Menschen die Galaxis zustand und alle anderen in diese eingedrungen waren? Nun war Sedrael Nichtmenschenfeindlichkeit durchaus nicht unbekannt. Diese musste weder logisch noch durchdacht sein, konnte sie auch gar nicht. Sie existierte schlichtweg. Ideologisch, unreflektiert, sündenbockartig. In Sedraels Zeit in der Republik hatte es schon derartige Strömungen bestimmter unzufriedener Irrlichter in der Menschenspezies gegeben und es würde sie letztlich immer geben, wie auch in nahezu jeder anderen Spezies. Eigenes Scheitern und Versagen führte häufig dazu, dass man Schuldige suchte, idealerweise solche, die man nicht kannte und die man als merkwürdig empfand. Bereits der geläufigere Begriff des „Alien“, den Menschen so häufig für Nichtmenschen benutzten, trug schließlich die Begrifflichkeit des Andersseins in sich und mochte für manche daher schon der erste gedankliche Schritt zum wertenden, ausgrenzenden Fremdsein, also zu einer Trennung zwischen seiner selbst und anderen Spezies, sein. So als gäbe es nur die Unterscheidung zwischen Menschen und Nichtmenschen, wobei Letztere – obwohl eine extrem heterogene Masse aus Tausenden anderer Spezies – zu einem undefinierbaren Haufen zusammengeworfen wurden. Doch im Vergleich zu ihrer Zeit in der Republik schien das hier nun anders zu sein, sehr anders. Sie hatte irgendetwas in dieser Richtung bereits im ersten Moment registriert, als sie die Rampe der Raumfähre auf dem anderen Schiff langsam und vorsichtig heruntergeschritten war und ihr die weißen Fratzen die Aufmerksamkeit gewidmet hatten. Die Macht hatte sich um sie herum zerrissen und Sedrael hatte die Feindseligkeit nicht verstehen können, die ihr so plötzlich und unerwartet als Welle der Empörung und des Hasses entgegengeschwappt war. Nun schien die Sephi erst durch Rupert Donnovans Worte zu verstehen und die allgemeinen Rahmenbedingungen, in denen sie sich befand, überhaupt erst einordnen zu können.
„Verzeihen Sie mir meine Forschheit“, antworte sie dem Mann schließlich entschuldigend und widmete ihm ein paar musternde Wimpernschläge. „Mir ist einiges hier sehr fremd. Ich muss mich und meine Rolle hierin erst noch finden.“
Ihr war durchaus bewusst, dass sie dem Mann einerseits ehrlich dankte, andererseits mit der Wortwahl ihrer Entschuldigung die Begrifflichkeit des Fremdseins umkehrte und implizierte, dass derjenige, der andere als fremd bezeichnete, von diesen seinerseits als fremd empfunden werden würde und er damit also letztlich selbst zu einem Xeno wurde. Ob Donnovan die Ironie dahinter direkt bewusst verstand oder nicht, spielte jedoch für Sedrael keine Rolle. Primär hatte sie lediglich für ihre Unwissenheit über die hier vorherrschenden Konventionen um Verzeihung gebeten.

Das schien dem Mann zu genügen, der schließlich ihren Vorschlag, sie zur Medi-Station zu geleiten, tatsächlich wahrnahm, vielleicht etwas unerwartet. An anderer Stelle hätte sie es vielleicht freuen können, dass es ihr gelungen war, diesen Mann dazu zu bringen, ihr seine Zeit freiwillig weiter und länger als unbedingt notwendig zu widmen. Freude war jedoch ein Gemütszustand, den sie in dieser Situation gerade nur schwer empfinden konnte. Schweigend trottete sie dem Mann hinterher und hielt sich an seinen Ratschlag, musste sich jedoch anstrengen, Schritt mit ihm halten zu können, da das Universum in ihrem Schädel immer weiter expandierte und ihren Geist zunehmend in Unordnung brachte. Tausende klagender Geister flehten um Vergebung und erbaten die Antwort nach dem Grund ihres Sterbens, beschworen durch die feuerspeiende Apokalypse aus dem Orbit. Die Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Leute auf dem Schiff, Leute, die sie betrachteten, hassten oder auch nicht, nahm sie im endlosen Chaos innerhalb ihrer Gedanken gar nicht mehr wahr. Sedrael unterdrückte ein Stöhnen, bevor Donnovan nach einiger Zeit vor einer der vielen Türen stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Die Sephi schüttelte ihren Kopf kurz, um derweil ihre Konzentration wieder auf die physische Welt fixieren zu können und die gedankliche Ebene auszutreiben und sie von sich fortzustoßen. Donnovan schien neugierig zu sein, was prinzipiell eine gute Sache war, außerdem legte er den Finger genau dort hinein, wo es wehtat. Körperlich, als sie bei dieser durchaus unterwarteten Frage ein Stechen in ihrer Brust bemerkte, und geistig. Wie sollte sie dem Mann es erklären? Wie konnte man einem Menschen, der die Macht nicht verstehen konnte, so etwas plausibel erklären, etwas, das man nicht fühlen, nicht hören, nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken konnte? Es war kaum möglich. Sie verstand es schließlich selbst nicht. Man konnte die Macht und ihre Umwege anderen nicht beschreiben. Man konnte sie in seinem Inneren, man konnte sie überall spüren – oder man konnte es eben nicht. Auch ein Machtbegabter, der der Macht sein gesamtes Leben unterwarf und komplett widmete, konnte sie nicht vollständig verstehen. Sedrael konnte nicht verlangen, dass jemand ohne diese Sichtweise ansatzweise begriff, was dort unten geschehen war. Das hatte nichts mit mangelnder Intelligenz anderer Leute zu tun. Rupert Donnovan war zweifelsohne nicht dumm. Er war deswegen auch nicht weniger wert. Er hatte nur keinen Zugang zur Macht. Oder besser gesagt, er konnte den Zugang nur nicht finden, weil die Macht entschieden hatte, ihn ihm zu verwehren.

Warum das so war und bei anderen nicht, war eines der bedeutsamsten und für Sedrael interessantesten Rätsel, das sie zu ergründen suchte. Warum räkelte sich die Macht wie die Schlange um manche Personen und verführte sie, während andere ausgeschlossen blieben? Sie bot manchen die Gelegenheit der Weitsicht und die Chance, Dinge zu erreichen, die andere nie konnten – selbst wenn sie sich anstrengten. Doch genauso gab es Machtbegabte, die an dieser Aufgabe scheiterten, die sich nicht der Ergründung erschlossen, sondern diese Begabtheit anderen, egoistischeren Zwecken widmeten. In gewisser Weise mochten diese Personen ein Fehler in der Macht sein. Ein Fehler, den die Macht – wie die Geschichte lehrte – stets früher oder später korrigierte. Aber ein Fehler bedeutete auch, dass die Macht nicht vollkommen oder allumfassend war. Das wiederum widersprach aber der allgemeinen Tatsache, dass die Macht überall strömte, nur in verschiedentlicher Intensität. Möglicherweise waren dunkle Machtbegabte ein Begleitprodukt, ja vielleicht eine Art Nebeneffekt der generellen Synergie. Wie es in gesunden Körpern auch vereinzelt kranke Zellen gab, so mochte es in der Macht auch kranke Geschöpfe geben, die eben existierten und die früher oder später von den gesunden verdrängt wurden. Diese Geister mochten also ein Geschwür sein, von dem die Macht die Galaxis irgendwann reinigte und dabei möglicherweise auch die eine oder andere gesunde Zelle abstoßen musste. Firrerre? Oder war Firrerre vom Geschwür infiziert worden? War Sedrael vom Geschwür infiziert worden? Fragen. Immer nur Fragen. Die Macht war stets voller Fragen, stieß einen hinab in das endlose Labyrinth voller Dunkelheit, in dem Sonnen und Schatten geisterhaft spukten und den Gefangenen ihren eigenen Weg zum Ausgang aufzeigten. Welcher Ausgang war der richtige? Einige führten in die Abyss, andere in eine völlig unbekannte und unergründete Sphäre. Antworten. Niemand konnte sie anbieten. Sedrael glaubte nicht, dass Nigidus wirklich Antworten auf wichtige Fragen liefern konnte. Selbst wenn, waren Antworten nicht automatisch wahr. Und selbst wenn sie wahr waren, aus Sicht der jeweiligen Person, so bedeutete das wiederum auch nicht, dass sie faktisch richtig waren, also mit dem übereinstimmten, was die Macht tatsächlich auszeichnete. Die Antworten der Inquisitoren wären keine Wahrheiten, sondern Schlussfolgerungen, Meinungen. Prinzipiell also viel oder so wenig wert wie die von Sedrael selbst. Was die Frau jedoch tun konnte, war Sedraels Blickwinkel zu erweitern. Das war der Grund, warum sie hier war. Zumindest war das Sedraels Wahrheit. Oder das, was die Sephi dafür hielt. Vielleicht war es unterbewusst nur ein Vorwand gewesen und eigentlich ging es um etwas anderes. Vielleicht war das All auch gar nicht schwarz, sondern wurde von der Macht nur so abgebildet, weil die lebenden Wesen in ihren begrenzten Körpern es anders überhaupt nicht zu fassen vermochten.

Sedraels Kopf brummte, allerdings gelang es ihr nicht, sich zu erinnern, ob das seit den beiden für sie unangenehmen Flügen durchgehend der Fall gewesen oder nun eine Reaktion ihrer immer weiter ausschweifenden Gedanken war. Einen Augenblick lang strich sie sich mit einer Hand für mehrere Sekunden über das Gesicht als wolle sie den Schleier um sie herum abstreifen. Doch der Mann erwartete eine Antwort. Nun, es gab nur eine. Sedrael hatte zwar soeben vordergründig ihre eigene Antwort auf diese Frage gedanklich erörtert, nicht aber die der Inquisitorin, die für sie im Verborgenen lag. Erneut ein Kopfschütteln, um zur Besinnung zu kommen.
„Ich nehme an, ich hatte etwas anzubieten, das ihr andere nicht anbieten konnten. Allerdings kann ich Ihnen nicht sagen, was es ist. Ich… weiß es selbst nicht genau.“
Letztlich wurde ihr durch die Frage des Offiziers und ihre unbefriedigende Antwort darauf erst wirklich bewusst, was für ein unkalkulierbares Wagnis sie hier vielleicht eingegangen war. Sie war einem vagen Stoß der Macht gefolgt, einem Gefühl. Oder einem Gefühl, das sie als Stoß der Macht interpretiert hatte. Aber vielleicht war es auch eine Fehldeutung gewesen. Oder war es lediglich der Wink gewesen, den Planeten zu verlassen und fortan getrennte Wege zu gehen? Was mochte ihr wirklicher Wert für die Hexe sein? Wer war sie denn schon? Mehr Fragen. Zumindest konnte ihr Wert für Nigidus nicht materieller Natur sein. Sedrael besaß offensichtlich nichts von solchem Wert, außer vielleicht ihr Schwert, an dem die Inquisitorin aber schließlich beinahe so wenig Interesse gezeigt hatte wie Sedrael selbst. Nigidus hätte sie jederzeit entwaffnen können, wenn sie es gewollt hätte, hatte sich aber entschieden, ihr diese Waffe trotz ihrer Gefangenschaft zu überlassen. Tendenziell würde die Sephi vermuten, dass die Inquisitorin ohnehin über den materiellen Werten stand und nach einer ganz anderen Antwort auf gewisse Fragen suchte als über Reichtum und Überfluss. Wer in der Macht verankert war, für den war das Geld nur ein Bezahlwert für den Tauschhandel, ohne weitergehenden Nutzen. Es würde die wichtigen Punkte der Existenz und des Strebens nach Erkenntnis weder kultivieren noch zähmen können. Dennoch war fraglich, ob das überhaupt das Interesse von Nigidus war oder etwas ganz anderes. So viele Gedanken, so viele Unwägbarkeiten.

Es war nur logisch, dass ihr Geist nach diesem fürchterlichen Tag alles zu hinterfragen begann. Schließlich lag Hinterfragen und Überdenken in ihrer Natur, immer schon. Ein tiefer Einschnitt war nun aber vollzogen, der nicht mehr ohne Weiteres rückgängig gemacht werden konnte. In all diesem heutigen Wahnsinn und nach den Schreien der Todesfee, die im Glockenspiel der Macht plärrendes Zeugnis in Sedraels Kopf darüber ablegten, dass jene tausendfach Seelen von dem Planeten eingefordert hatte, war nur gewiss, dass sich das Vakuum nicht nur um das Schiff herum ausgebreitet hatte, sondern auch mehr und mehr im Kopf der Sephi. Gewiss war nur, dass ihre Augen wie im versiegenden Feuer brannten, derzeit noch befeuert von Müdigkeit und Trauer, aber sie spürte bereits, wie der glimmende Funken darin allmählich erlosch und ihre Konzentration immer schwerer machte. Nicht nur geistig, sondern auch zunehmend körperlich. Die zunächst unauffälligen Zeichen ihres Körpers wurden mehr und mehr, insbesondere ihre deutlich erhöhte Blinzelfrequenz, die versuchte, gegen die unklarer werdenden Bilder vor ihren Augen anzukämpfen. Es war wohl nötig, die Untersuchung hinter sich zu bekommen, anschließend aber konnte sie nur noch eine Unterkunft erbeten, in der Hoffnung, dass der Schlaf einige Gedanken beantwortete, sie austrieb oder aber zumindest so weit zu ordnen vermochte, dass Sedrael in einem Zustand aufwachte, der kontrollierter war als das verwundete, chaotisierte Wrack, das sie im Moment war. Oder dass sich der Albtraum, in dem sie sich befand, als das herausstellte, was er war: Ein Traum.
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