#25
Nun war es also die Parabel, die bereits zu erwarten stand. Natürlich war auch die schönste Dekoration von Worten nichts weiter als das, etwas, das vielleicht hübsch anzusehen war, etwas, das man in seiner wohlgeformten und durchdachten Pracht zu genießen vermochte, um sich von den grauen Worten der vielleicht weit unspektakuläreren Realität des Alltags abzulenken. Die Dekoration war der Schein, der die bare Realität vernebeln sollte, um etwas schöner zu machen, das ansonsten möglicherweise gar nichts an Schönheit vorzuweisen gehabt hätte. Nun änderte dies allerdings nichts daran, dass das Dekor diesen Auftrag auch wirklich erfüllte und Sedrael sich daher insoweit wiederfand, als sie sich dem Bildnis nicht entziehen konnte. Die Frage mochte stets bleiben, welche Kraft nun tatsächlich den nicht zu stoppenden Strom bildete, der sich aller Widerstände zum Trotz durch seine Umgebung schlängelte. Der Strom offenbarte kein alternatives Ende, er endete stets im gleichen Fluss wie vor den Hindernissen. Die Hindernisse änderten langfristig überhaupt nichts. Sie stellten sich in den Weg, doch ihr Ersuchen war ohne Belang, denn nur der Weg mochte sich ändern, nicht dagegen das Ziel. Wenn sich der Fluss spaltete und weitere Möglichkeiten auftat, so tat er dies nie an einzelnen Hindernissen, sondern stets dort, wo das Gewässer selbst frei fließen konnte. Das Ergebnis stand daher fest, selbst wenn der Fluss sich um Hindernisse herum schlängeln musste, so würde er doch wieder dort hinfließen, wo er auch ohne den Widerstand hingeflossen wäre. Widerstand, der um des Widerstandes willen den Fluss zu beeinträchtigen suchte, war parasitär. Und manchmal wurde ein Strom so stark, dass er eines der Hindernisse in seinem Weg gerade nicht tolerierte, sondern es wegschwemmte, wenn es für den Fluss so widernatürlich war, dass es durch die unbändige Kraft, die gegen ihn geschmettert wurde, fortgespült werden musste. Jede Existenz mochte den Fluss der Macht ein kleines Stück weit beeinflussen, Milliarden kleiner, unscheinbarer Hindernisse, die diesen nicht beeinträchtigten, sondern in friedvoller Ruhe zusammen koexistierten und nicht gegen diesen in Widerstand arbeiteten, im Gegenteil mit diesem den Verlauf des Flusses formten. Doch dann gab es solche Hindernisse, die sich bewusst und gezielt gegen den Strom stellten. Die den Fluss beeinträchtigten, ihn herausforderten. Die Hexe hatte völlig Recht. Nein, natürlich war es nicht der Fluss, der die Hindernisse verachtete – es waren vielmehr die fleischgewordenen Hindernisse, die den Fluss verachteten. Und wenn zu viele existierten, oder sich wenige zu viel anmaßen, so staute sich der Fluss, bis sein Pegel hoch genug war, die Hindernisse zu verschlingen, die ihren von vorneherein verlorenen Kampf zu gewinnen glaubten. Es war kein gerechter Kampf, es war niemals eine Frage des Ob, immer nur des Wann. Wann der eine Moment da war, wenn der Pegel überschritten war und die reinigende Welle die aufgestauten Hindernisse in ihr nasses Grab trug, wo sie am Grunde des Flusses ihr abseitiges Dasein fristen sollten. Es spielte keine Rolle, ob dieser Widerstand ein funkelnder, leuchtender Stein war oder ein finsteres Werk aus den Schatten. Der Fluss beseitigte den verhöhnenden Widerstand, woher er auch kam.

Ob das aber auch das war, was die Hexe damit sagen wollte? Oder war das eben vielmehr nicht nur wieder Sedraels eigene Interpretation, die sich aus ihrer ohnehin schon bestehenden Meinung zusammensetzte und dann wieder ein völlig anderes Bild aus den Wortfacetten der Frau zeichnete als diese damit eigentlich hatte sagen? Hatte sie überhaupt etwas damit sagen wollen? Niemand konnte es wissen. Die Hexe wusste nicht, wie Sedrael ihre Worte verstand und Sedrael wusste nicht, wie die Hexe die Worte meinte. Vielleicht würde sich die Kommunikation mit der neuen Bekanntschaft doch komplizierter gestalten als es bisher teilweise den Anschein hatte. Noch komplizierter. Insbesondere, wenn sie sich für Sedrael so widersprüchlich gab. Aber gab sie sich nur so oder war sie es auch wirklich? Vielleicht steckte hinter der mysteriösen, magischen Fassade auch etwas völlig Unspektakuläres, Einfaches, das – sobald entschlüsselt – des Rätsels Lösung sein würde. Bis dahin jedoch war es schwer, sich im Dunkeln voranzutasten, mit den Fingernägeln gegen die raue, schnappende Oberfläche zu kratzen, bis die oberste, vom Alter gegerbte Schicht sich ablöste und den Blick auf das wesenseigene Innere preisgab. Die Frau wollte ein Mysterium sein, sie wollte nicht erkannt werden. Auch wenn sie davon sprach, dass Sedrael sie zur Erschließung dessen kennenlernen musste. Fraglos hatte die Hexe Recht damit, dass nur die Zeit des Kennenlernens diese Fragen beantworten irgendwann konnte, aber eine dieser Fragen mochte auch sein, ob die Sephi Reah überhaupt kennenlernen wollte. Nun, ja. Und nein. Nicht nur die Hexe war widersprüchlich, gestand die überfragte Sedrael ein. Zeit war notwendig, um dieses verwirrende Geflecht auflösen zu können. Zeit, die sie in der Tat hatte, oder vielleicht auch nur einfach haben musste. Das machte es wohl nicht befriedigend, gleichzeitig war die Einschätzung letztlich vor allem aber realistisch. Es ließ sich indes nur spekulieren, ob die Zeit eines einfachen Menschenlebens dafür überhaupt genug sein konnte.

Die Hexe sprach Sedrael das Bemühen ab, sie zu erkennen? Das empfand die exilierte Jedi als Überraschung, in Anbetracht ihrer Fragen, die Reah gezielt kryptisch beantwortete, sogar als ein Stück weit anmaßend. Etwas missmutig verengte sie ihre Augen, umso mehr als die Frau dann erneut Kehr machte und trotzdem bescheinigte, dass sie ihrem weißen Spielzeug Vertrauen schenkte. Überraschung wandelte sich in Verwirrung. Das alles war so ungeordnet, irritierend, chaotisch. Reah Nigidus war die Anarchie der Gedanken. Niemand durfte das Gewirr ordnen, niemand war darüber erhaben, vielleicht nicht einmal die Hexe selbst. Nur wer selbst wirr genug dachte und das Gewirr als solches verstand, würde die Inquisitorin begreifen. Skeptisch verfolgte Sedrael, wie die Frau schließlich näher herantrat, ihre Spinnenhände ausstreckte, um neue Beute in das Gespinst zu führen, dessen Netz sich in der Macht auftat und mehr und mehr von Sedrael festzusetzen versuchte. Doch nicht nur das Netz durfte die Beute berühren, nein, auch der Webmeister selbst wollte seinen Bedarf stillen, streckte den Gliederarm aus und ergriff die weiße Beutehand sachte. Vor Sedraels Augen explodierte das Universum. Dumpf prallte das Datapad auf den Boden. Irrelevant. Belanglos. Wichtigeres geschah. Niemand beachtete den in diesem Moment so wertlosen Gegenstand. Feine Eiskristalle regneten aus dem Blitz herab und tanzten auf ihrer Haut, bevor sie dort schmolzen. Das kalte Feuer der Finsternis loderte in ihrer Gegenüber, wollte sich feuerspeiend auf die Sephi ausweiten, doch die Bestie konnte sich kontrollieren, sich beherrschen und die verzehrende Leidenschaft wurde durch den Willen der Hexe im Zaum gehalten. Doch es blieb dabei. Das Ganze war für Sedrael schwer erträglich. Die Berührung war widerwärtig, ja direkt abstoßend. Blutbefleckte Hände hatten die ihren berührt, führten diese zusammen. Das Blut ihrer Leute tropfte von dem geschwärzten Leichenarm auf Sedraels feine weiße Haut hinab, besudelte sie. Feine rote Lebenslinien bahnten sich ihren dickflüssigen Weg über die Haut. Sie betrachtete das Ganze mit einer ihr unheimlichen Ruhe, blinzelte, sah weiter die Todeshände an, beinahe als studiere sie den Vorgang wie ein interessierter Außenstehender. Vielleicht, ja vielleicht war es diese morbide Faszination des Todes. Die sie davon abhielt, sich loszureißen, das Weite zu suchen. Trotz allem ließ sie es über sich ergehen. Doch es war nicht genug. Anstelle sich dieses Mal nur mit der verstohlenen Kostprobe kindlicher Neugier zufrieden zu geben, forderte das Schattengespinst nun mehr ein, jetzt wo es die Beute im Netz festhielt. Es begnügte sich nicht damit, sie nur festzuhalten. Nein, das Gespinst trat mehr zu ihr heran. Sedraels Augen weiteten sich, als die Maskerade des Schattens immer näher kam. Wa-Was tat Reah da gerade? Jetzt gerade? So viel näher als sonst, die sorgsam gehütete, aber zerbrechliche Komfortzone zerschlagend. Die Greifer des vielbeinigen Webers trieben aus, befühlten das überforderte Geschöpf sorgsam, vielleicht prüfend, ob sich das Wesen als nahrhafte Speise eignete oder erst noch reifen musste. Reflexartig zog Sedrael den Kopf zurück in den Nacken, so als könne sie der Berührung durch das verzehrende Herz entfliehen, doch es gab kein Entrinnen. Das fingergewobene Netz verhieß Unmöglichkeit, hielt sie an Ort und Stelle. Sofern es überhaupt möglich war, schien sämtliche Farbe aus Sedraels Gesicht zu weichen. Viel zu nah. Panik blitzte in dem Moment in ihren Augen auf, als das kalte Material auf ihre nackte Stirn traf. Doch selbst so war es eine merkwürdige, fast schon freundschaftliche, intime Geste. Ging es vielleicht auch darum? Um das Betteln um Verständnis, ohne sich selbst zu erklären, sondern einfach nur um des Verstandenwerdens willen? Sedrael schloss kurz die Augen, versuchte in ihrem Geist die Stimme abzustellen, die ihr so unwiderlegbar einflüsterte, dass sie gerade Stirn an Stirn mit dem Monster stand, das ihr mehr Kummer bereitet hatte, als jedes andere Wesen dieses Universums. In ihrem Inneren rumorte es. Der Gedanke war nicht so einfach abzustellen und führte dazu, dass ihr übel von dieser urplötzlichen, bedrängenden Nähe durch Reah wurde. Und wieder wäre es nur dieser eine kurze Hieb, der das Spinnentier hätte erlegen und hilflos erschlagen in seinem Netz hätte zurücklassen können. Und wieder… tat sie nichts.

Als Sterne vorübergezogen und Planeten geschaffen und längst wieder verschlungen waren, löste sich das kühle Material wieder von Sedraels Stirn. Sie sagte nichts. Antwortete nichts. Ein Teil ihres Bewusstseins mochte realisiert haben, was die Hexe zu ihr gesprochen hatte, ein anderer Teil vielleicht nicht. Es war Zuckerbrot und Peitsche, immer wieder trat die Inquisitorin heran, um sich dann wieder fortzustoßen. Ein Zwiespalt? Und wenn ja, wollte sie diesen oder war er nur ein Produkt, das ihr lästig war? Zeit. Ja, viel Zeit. Und so stand sie da. Überrumpelt, vielleicht sogar ein wenig perplex, und blickte in die Augen hinter der Totenmaske, bis diese sich abwendete und mit großen Schritten die Pforte in den Hangar durchschritt.
„Oder vielleicht dafür, dass wir sie doch erlangen“, sagte sie hinterher, bevor die Hexe außer Hörweite war. Möglicherweise waren es alles in allem andere Antworten als die Frau aktuell dachte. Und wahrscheinlich auch als Sedrael dachte. Anders war aber variabel. Es musste nicht negativer sein. Ein paar Sekunden stand sie schließlich nur so dort und blickte ins Nichts, wo eben noch die Inquisitorin vor ihr gestanden war. Eigenartig. Sehr eigenartig. Irgendetwas strich über Sedraels Schuh, als sie den ersten Schritt voraus machte. Ah. Das Pad. Nun ja, es war wohl angebracht, es nicht einfach hier liegen zu lassen, wenn es ihr schon übergeben worden war. Sie nahm es vom Boden wieder an sich. Es schien den Sturz unbeschadet überstanden zu haben und ließ sich problemlos an- und wieder ausschalten.

Erst nach einer Weile folgte sie also der Hexe in den Hangarbereich, wo sie in Anbetracht der hellen Beleuchtung zunächst die Augen zusammenkniff. Was sich dort dann aber zeigte… war grotesk. Welch Irrsinn war dies nun wieder? Das eine Maschinenwesen, das seine menschliche Natur zumindest in seinem Äußeren nicht bestreiten konnte, war fortgeschickt worden und nun wurde es ersetzt durch ein neues Maschinenwesen, das nicht einmal dem mehr gerecht wurde. Sedrael empfand die Präsenz des Mannes als unheimlich, vielleicht tragisch, vielleicht selbstzufrieden. Aber alles in allem… unterschied sie sich nicht allzu sehr von denen einiger anderer Gestalten, vor allem derer, die ihr immer wieder einen verstohlenen, missbilligenden Blick an Bord zugeworfen hatten. Mit etwas Verspätung blieb sie etwas nach hinten versetzt neben der Inquisitorin stehen, ein Schatten, der die finstere Robe mit ihrer eigenen Robe lilafarben widerstrahlte. Gerade als sie zum Stehen kam, wandte Reah ihren Kopf zur Seite und stellte sie als „Agentin Maledice“ vor – was Sedrael alles in allem sogar als eigenartig amüsant empfand, auch wenn es ihr zunächst nur ein Stirnrunzeln abnötigte. Was auch immer sich die Inquisitorin davon versprach, für den Moment würde Sedrael ihr kleines Spielchen mitspielen. Als sie ihren Kopf in Darbietung der Vorstellung als Höflichkeit vor dem offenbar in irgendeiner Form wichtigen Mann absenkte, wechselte ihre Haut jedoch unwillkürlich in einen Rotschimmer, den manche in dieser Situation vielleicht als peinliche Berührtheit oder Nervosität auffassen mochten, auch wenn das nicht zu ihrer übrigen Mimik oder Gestik zu passen schien. Lügen hatte ihr nie gelegen und so hatte sie dies auch in dieser Situation nicht gemeistert, wohlwissend, dass sie nun aus irgendeinem Grund jemanden darzubieten hatte, der sie nicht war. Allerdings war der Inquisitorin vielleicht bislang auch gar nicht bewusst, dass genau das etwas war, worin sie – in vielerlei Hinsicht – nie gut gewesen war.
Offline
Zitieren
 


Nachrichten in diesem Thema