#15
Zufall? Zufall war nur das Wort, das einen unbekannten Sachverhalt beschrieb. Zufall war der Gedanke, die Ursache von etwas begierig erfahren und es als Erklärung replizieren zu wollen, aber schlussendlich daran zu scheitern. Aus Sedraels Sicht war das Ganze daher kein Zufall, darum hatte sie das Wort auch nicht genutzt und hätte es auch nie getan. Die Inquisitorin irrte, wenn sie Sedraels Aussage so interpretiert hatte, dass es dem körperlichen Wesen oblag, diese Münze zu werfen. Das war allenfalls ein Pseudowurf, wenn sie das versuchten. Der Münzwurf der Macht selbst hatte rein gar nichts mit Zufall zu tun. Er war nur das Aufzeigen des Ergebnisses, um es dem körperlichen Wesen begreiflich zu machen. Dem Adressaten mochte das wie Zufall vorkommen, doch nicht der Macht als Werfer der Münze. „Zufall“ war nur das Wort, das manche in ihrer Unkenntnis der Ursache zu nutzen pflegten, die Erklärung der Nichterklärung für das körperliche Wesen. Der Wurf aber folgte klaren Gegebenheiten, zumindest mussten sie klar sein, wenn man nur dazu in der Lage, war, diese Kriterien vollständig geistig zu begreifen. Doch war ein körperliches Wesen, ein sterbliches Wesen dazu in der Lage? Konnte es überhaupt dazu in der Lage sein? Die Physis setzte Grenzen, naturgegebene Grenzen, die vielleicht variiert, aber dennoch nicht übersprungen werden konnten. Es gab so Vieles, das viele Spezies sehen und befühlen konnten, noch mehr aber, was allen verborgen blieb. Die Macht dagegen war alles und nichts. Sie war Licht und Schatten. Existenz und Nichtexistenz. Für Zufall war kein Raum. Dieser Begriff kam nur dann ins Spiel, wenn man – wie so viele – mit dem Wesen der Macht nicht kooperieren wollte, sich ihm entzog und es auf die körperliche Ebene hinabzog. Es war der Rückzug in die eigene Festung, eine Abschottung vor den brandenden Wellen des Meeres, die sich gegen das selbst errichtete Mauerwerk warfen. Eine Zeit lang mochte die Zufallsfeste standhalten, aber irgendwann, mit jeder neuen Erkenntnis, wurden die aus Unkenntnis errichteten Mauern modriger, und erste Wassertropfen glänzten auch im finstersten Bereich der stürmischen und eins so sicher wirkenden Burg. Zufall war nur das Wort, das spätestens dann zerbrach, wenn die Festung endlich dem Meer nachgeben musste.

Nichtsdestotrotz machten Sedrael die Worte der Inquisitorin nachdenklich und lange Zeit schweigsam. Das vielleicht Beunruhigendste an dieser Situation war, dass die dunkle Hexe Sedrael ihre eigene Ansicht offenbarte – die mehr mit der der Hexe übereinzustimmen schien, als vermutlich weder sie noch die Hexe selbst bislang ahnten. Für Sedrael war es ein Stück weit unangenehm, dass ein Wesen dieser Finsterkeit offenbar einiges so ähnlich verstand, aber dennoch so völlig anders damit umging als sie selbst. Die Führung der Feder mochte anders sein, aber am Ende waren die schraffierten Bilder gar nicht so verschieden. War es das, was geschehen würde, wenn sie ihre eigene Festung niederriss und sich der Macht so hingab, wie sie es vielleicht früher getan hatte, nur eben damals auf ihre jüngere, unschuldige Art als Padawan unter Aufsicht ihres Mentors, der darauf achtete, dass sie immer noch sie selbst blieb? War es das, was geschah, wenn man sich von seiner Ansicht völlig konsumieren ließ? Ein kurzer Schauder durchzog sie und jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper. Die Fingerspitze führte ihre Feder an Sedraels Brustbein und begann daran zu zeichnen, eine verdorrte, krakelige Karikatur von sich selbst. Und doch basierten Karikaturen stets auf der Wahrheit, wenn auch nur auf der überzeichneten Art und Weise davon. Wie viel davon war hier nun Wahrheit und wie viel war überzeichnet? Sedrael dachte daran, nach der Federhand zu greifen, das Zeichnen zu beenden oder ihr bei der Linienführung zu helfen, doch vielleicht ließ sich das erst mit Sicherheit sagen, wenn das Bildnis vollendet war. Und vielleicht würden sie beide in Zukunft mehr ein Bildnis voneinander zeichnen als die Überzeugtheit der Hexe diese derzeit akzeptieren ließ. Oder es riss sie beide in den Abgrund, der in der Galaxis noch immer weithin offen stand und seine absonnigen Opfer willfährig empfing. Ein Abgrund, der alle Wesen gleichermaßen verschlang, unabhängig vom Loyalitäten und Ansichten. War es also überhaupt wichtig, was sie war? Wie die Frau sie bezeichnen sollte? Eine Kollektivbezeichnung führte immer zu Vorurteilen, zu Zwängen, die sich nicht ohne weiteres abstellen ließen. Ja, auch sie selbst war davor nicht gefeit. Auch sie hatte zunächst schlucken müssen, als Reah Nigidus ihr gegenüber eröffnet hatte, dass sie eine Sith war. Es war Sedrael nahezu in die Wiege gelegt worden, es war der Feind, ohne Zweifel, ja, der Erbfeind. Es gab kein Wenn und Aber, es war immer so gewesen. Doch nun war dieser Erbfeind hier und diese Erkenntnis hatte letztlich nichts geändert, wie sich die Sephi nun der Frau gegenüber verhielt. Zumindest nicht bewusst. Doch so klar ihre Gegenüber dies formuliert hatte, so wenig klar empfand es Sedrael in Bezug auf ihre eigene Person. Offenkundig war sie keiner Organisation verbunden und somit keinen Zwängen unterworfen, die ihre Meinung in der einen Form oder der anderen in diesem Moment ansonsten hätten beeinflussen können. Und das war, alles in allem, das einzig Relevante. Sie war eine Person, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ob sie wirklich glaubte, Jedi zu sein oder nicht, war daher unwichtig. Es änderte nichts.
„Ihr könnt mich lediglich Sedrael nennen, Reah Nigidus,“, entgegnete sie der Frage der Frau somit nach einem kurzen Augenblick. „Es allein ist, wer Euch gegenüber sitzt. Es allein sagt, wer ich bin, mit all meinen Lastern und all meinen Vorzügen. Nur ein Individuum.“
Letzten Endes war das aus Sedraels Sicht zwar korrekt, wenn auch verknappt. Sie war anfangs – vor ihrer Zeit als Jedi – noch unter den Firrerreo sozialisiert worden, was bedeutete, dass der Name, der ihr seit ihrer Kindheit gegeben war, nur der Rufname und nicht ihr wahrer Name war. Das Wissen um den wahren Namen bedeutete nach deren Vorstellung Macht und Einfluss gegenüber derjenigen Person und so wurde er nur an die engsten Vertrauten weitergegeben, von denen man wusste, dass sie ihn nicht missbrauchen würden. An diese Schwelle trat die Inquisitorin jedoch noch lange nicht heran. Somit spielte Sedrael auch gar nicht erst mit diesem Gedanken.

War der Ausblick in die Zukunft derart finster? Die Hexe erschuf ihre Traumwelt aus verstörenden Bildern, gab sie Sedrael preis. Eine dystopische Welt voller Tod und roboterhaften Lebewesen. Aber war das neu? Es war Realität, offenbar schon lange. Derartige Roboter waren auch hier, hier auf Reah Nigidus‘ Schiff. Aber es schien sie hierbei nicht zu kümmern. Erst der Schlächter der Jedi rang ihr eine Reaktion auf die Konditionierung von Lebewesen ab. Empfand die Inquisitorin normale Lebewesen schlichtweg als wertlos? Doch im Rahmen dessen änderte sich die Frau plötzlich merkbar. Es gelang es Sedrael vielleicht das erste Mal, hinter die Fassade zu blicken, hinter die Maske, die nicht nur körperlich hier war. Die Person, die bislang bemüht gewesen schien, stets die Souveränität zu wahren und als die, die trotz allen mehrfachen Austestens von Sedrael bisher am Ende doch auf irgendeine Art alle Fäden in der Hand gehalten hatte, war plötzlich eine andere. Verängstigt, fast panisch. Verzweiflung in den Augen. Und so war die Person vor ihr in diesem Moment gar nicht mehr die Hexe, gar nicht mehr die Inquisitorin und auch nicht mehr Mörderin von Sedraels Heimat. In diesem Moment war sie nur Individuum, nur Mensch, nur Reah Nigidus. Ein Mensch mit Ängsten, Angst vor der Zukunft, die bevorstand und die vielleicht jetzt andere benachteiligte, welche in den letzten Jahrzehnten davon begünstigt gewesen waren. Gewinner hatten infolge von Wandel immer die Angst, anschließend zu Verlierern zu gehören. Zu lebenden Maschinen, unfrei und eingesperrt. Für die Verlierer des letzten Wandels war es dagegen immer eine Verheißung und vielleicht die Aussicht auf Verbesserung. Sedrael betrachtete die so menschliche Frau nachdenklich. Diese Angst vor der Veränderung war einem jeden, der sich als Machtbegabter in der Zeit des Imperiums versteckt halten musste, nicht in der Lage, ein Leben nach seiner eigenen Wahl zu bestimmen, sondern nur anhand der finsteren Puppenspieler, die alle Bedingungen selbst setzten, nur zu bekannt – und möglicherweise war der Frau nicht bewusst, dass dies also weder etwas Neues noch etwas Unbekanntes war, schon gar nicht für die Person, mit der sie gerade sprach.
„Nun, es ist nur das Gefühl, das einige unseresgleichen bereits seit langer Zeit erdulden müssen“, erklärte Sedrael leise. „Und allmählich kehrt es sich nun jenen zu, die es vielleicht selbst einst gesät haben.“
Ja, das Pendel schlug zurück. Früher oder später. Manche, die sich dieser Realität verweigert hatten, hatte es bereits vor kurzem überrascht und sie lagen jetzt erschlagen in der Geschichte darnieder. Andere erkannten es zuvor und waren dazu vielleicht in der Lage, ihren Beitrag zur Lösung dessen zu leisten. Aber wie ihre Gegenüber trefflich formuliert hatte, würde die Macht nicht jene Blinden heilen, die nicht geheilt werden wollten. Sedrael hob langsam, unsicher ihre linke Hand an und schob sie in Richtung der Illusionistenhand, die weiterhin Unheil in die Zelle spie. Ein erster Schritt in Richtung des Drachens, der sonst immer auf sie zugegangen war. Doch die Sephi zögerte, hielt einige Zentimeter davon entfernt schließlich inne. Die Überwindung nach allem war groß, sehr groß, ja, zu groß. Die Angst davor, verschlungen zu werden von den Untiefen, die diese Frau gezeigt hatte und die auch jetzt immer noch vorhanden waren, auch wenn sie im Moment vielleicht nicht so wirkte. Auch das finsterste Gesicht konnte ein Mal lächeln. Berührungslos senkte sich Sedraels Hand wieder hinab in Richtung des Bodens. Es war zu frisch, sie konnte es nicht. Den Boden betrachtend atmete sie aus, um sich kurz zu sammeln.
„Aber eine jede Fessel ist stets auf vielerlei Arten lösbar. Und nicht immer ist der wirkungsvolle Weg derjenige, welcher kurzfristig raschen Erfolg verheißt.“
Die Sephi wusste nicht allzu viel über die Doktrin der Sith, als welche sich ihre Gegenüber bezeichnet hat, aber ihr war bekannt, dass Furcht vor der Unfreiheit eine der häufigen Motivationen für ihr Handeln sein sollte. Die Darstellung von Reah Nigidus schien hierzu ins Bild zu passen. Angst hatte vielerlei Gesichter. Sie konnte lähmend wirken, aber auch zu Handlungen zwingen, wenn anderenfalls Konsequenzen drohten. War das das Angebot, das der eigenbezogene Haltung eines Sith Nahrung verlieh? Das Lösen irdischer Fesseln durch eigene Stärke? Nun, es war kurzsichtig. Angst war kein guter Ratgeber. Sie führte zu hastigen Entscheidungen, Kurzschlussreaktionen. Die Korrumpierung legte einem nur andere, jedoch immer schwerer werdende Fesseln an, selbst wenn man sich von den alten dadurch befreien konnte. Der eigene Kontrollverlust war der Preis zur Zerschlagung irdischer Ketten – aber hatte ein Kontrollverlust nicht noch viel mehr den Charakter einer Marionette, den sie dadurch gerade zu vermeiden suchten? Es war ein Widerspruch, der sich wohl nur durch das eigene Heilsversprechen erklärbar machte. Doch ein Versprechen konnte auch gebrochen werden.

Sedrael stand auf. Ihr war zwar nicht bewusst, welche Relevanz der erwähnte Admiral auf ihren weiteren Gang haben würde, doch der Zuspruch einer angemesseneren Unterkunft war nach den Strapazen der letzten Tage eine empfängliche Aussicht. Wie lange war es her, dass sie in einem richtigen Bett hatte schlafen können? Schwer zu sagen. Die Erinnerung daran war verblasst, lange schon. Stumm nahm Sedrael ihre purpurfarbene Robe von dem weitaus weniger bequemen Bett der Zelle. Ihre Hand befühlte den grauen Stein Firrerres, den sie damals an sich genommen hatte. Ja, manche Erinnerungen waren dagegen noch deutlich frischer. Die Sephi seufzte unterdrückt und folgte der Hexe schließlich aus der Zelle.
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