#24
Momente wie diese waren es, in denen Cassio es vorzog, wieder in seinem Büro im Stab zu sitzen und das zu tun, in dem er gut war. Natürlich war ihm immer klar gewesen, was für Konsequenzen seine Arbeit durchgehend bedeutet hatte. Aber es kam nun einmal nie so nahe an ihn heran, man blickte aus der Distanz auf etwas, ohne wirklich unmittelbar mit den Konsequenzen konfrontiert werden zu müssen. Es war fast eine rein mathematische Aufgabe und Zahlen fingen letztlich wenig von dem ein, was ein menschliches Gesicht zeigte, wenn der Person klar wurde, dass sie sterben musste. Ja, vermutlich hatte er schon Dutzende, vielleicht Hunderte Admirale wie Zen in den Tod geschickt. Das war vielleicht tragisch, aber nun einmal nötig. Doch er erinnerte sich an keinen Fall, in dem er einer Person hatte mitteilen müssen, dass sie sterben würde. Sicher bargen alle militärischen Operationen dieses Risiko, aber zwischen einem bloßen Risiko und der klaren Gewissheit lagen Welten, Welten, die vor allem in der Wahrnehmung des Adressaten einen Unterschied machte. Hoffnung war eine der stärksten menschlichen Triebfedern und die Abwesenheit davon einer der größten Hemmer. Jemandem von Angesicht zu Angesicht diese Hoffnung nehmen zu müssen und ihm, wenn auch verklausuliert, zu sagen, dass die Geschichte hier eben endete, sorgte für ein eigenartiges Gefühl in seiner Magengegend. Es war ungewohnt und schien weit weniger richtig als wenn man es über die Distanz in einem Auslaufbefehl mitteilte. Aber vielleicht lag es zum Teil auch daran, dass er damit gleichsam seinen eigenen Untergang aufziehen sah.

Cassio regte sich kaum, als die Frau ihm eine Antwort entgegenwarf. Ein kurzes, marginales Zucken verriet dennoch eine gewisse Überraschtheit, die er mit wiederholtem Blinzeln in Richtung der Wolkenkratzer wenig erfolgreich zu kaschieren versuchte. Er widerstand jedoch dem unterschwelligen Drang, auf die sitzende Frau neben ihm herabsehen zu wollen. Natürlich konnte ihre Reaktion als solche eigentlich auch gar keine Überraschung sein, überrascht hatte ihn daher wohl nur der Moment. Wut und Frustration darüber waren sicherlich die ersten Emotionen, die auch zu erwarten gewesen waren und irgendwohin als Gemisch kanalisiert werden mussten. Dieser Zustand der Wut, der Frustration. Seltsam empfand er nur, dass er letztlich komplett seine eigene Reaktion in ihr wiederfand, nur in einer Art Zeitraffer. Dass ihre Gedanken auch direkt um Urlaub und Flucht kreisten, bestärkten dieses Gefühl noch einmal deutlich – auch wenn sie das wohl mit mehr Galgenhumor verband als er es tat und überhaupt gekonnt hätte. Obwohl ihm seine neuerliche zynische Ader, die immer wieder anzuschwellen drohte, nicht entgangen war. Er schmunzelte auf ihre Bemerkung knapp, trocken, eher aus Höflichkeit, der ihrem Galgenhumor mehr oder minder Tribut zu zollen schien. Es war allenfalls bemerkenswert, dass sie das aussprach, was er gerade gedacht hatte – nur dass sich im Gegensatz zu ihr seine Gedanken um ein fixiertes Zentrum, sein eigentliches Zuhause, gedreht hatten. Coral Vanda, eigentlich eine fast sympathische Vorstellung, eine, die so viel mehr von Frieden als von Krieg zu verheißen schien und kaum weiter entfernt von dem zu sein vermochte, das einen erwartete. Vor vielen Jahren hatte Cassio einst seiner Tochter versprochen, die Messingsoldaten von Axum auf ihrem Nachbarplaneten zu besichtigen, eines der legendären Zwanzig Wunder der Galaxis. Ein eher pflichtfreies Versprechen, das er – natürlich – nie eingelöst hatte, wie vermutlich weitaus zu viele, derer er sich gar nicht mehr erinnerte. Aber wahrscheinlich war es an der Zeit dafür. Schwieriger war schon die Frage, ob er seiner Tochter die Wahrheit sagen würde oder nicht, bevor er wieder fort musste. Es schien nicht fair, es ihr vorzuenthalten, auf der anderen Seite schien es ebenso wenig fair, ihr es ins Gesicht sagen zu müssen, dass er nicht wiederkehren würde. Dieser Gedanke musste noch genauer durchdacht werden, um Klarheit zu schaffen.

Es war aus Cassios Sicht schwer zu glauben, dass Zen nicht einmal dieses Zentrum, diesen Rückzugsort besaß; noch schwerer, sich vorzustellen, dass die Frau wirklich gar nichts zu regeln hatte, allerdings kannte er ihre Akte aus dem Stegreif natürlich auch nicht in dem Detail, um hier und jetzt zu wissen, welche lebenden Verwandten Zen noch hatte, die dort ohne Zweifel ausführlich aufgeführt wären. Das Imperium wollte immer wissen, ob irgendein Angehöriger vielleicht Probleme bereitet hatte, um so verräterische Tendenzen einsortieren zu können. Ein Verwandter bei der Rebellion konnte einige Erklärung erfordern. So oder so, es war natürlich nie leicht, in Kriegszeiten Kontakt zur Familie zu halten und seit der Zerstörung des Todessterns war der Kriegszustand für die imperialen Soldaten ohnehin immer spürbarer geworden. Nicht selten bedeuteten monatelange Abwesenheiten irgendwann auch das Ende von Beziehungen und Partnerschaften. Nur wenige Zivilisten konnten auf Dauer dieses Verständnis aufbringen. Und nun tobte dieser Krieg schon über fünf lange Jahre. Aber für gewöhnlich bildeten sich darin zumindest neue Beziehungen, auf die eine oder andere Weise – auch wenn es im Dienst nicht unbedingt gerne gesehen war. Ausgehend von Zens Äußerungen schien es da allerdings weder in der einen noch in der anderen Hinsicht irgendetwas zu geben, was zweifellos ungewöhnlich wäre. Auf der anderen Seite mochte ihr Geschlecht auch einen Teil dazu beitragen, dass bestimmte Männer der Flotte eher wenig mit ihr zu tun haben wollten. Es schien aus Cassios Perspektive ohnehin schwer verständlich, in einer Institution zu dienen, die Frauen schon von vorneherein als Soldaten zweiter Klasse betrachtete – und möglicherweise gab es da sogar einen Tick Neugier, was eine Person überhaupt dazu brachte, diese Erniedrigung über sich ergehen zu lassen und trotzdem nach Jahren noch immer unter diesem Banner zu stehen, um dieses gegen seine Feinde zu verteidigen, obwohl es einen in keinster Weise wertschätzte. Vielleicht eine Frage für die Zukunft, so es dazu kam, aber nicht für jetzt. Ihre gestresste Reaktion schien keine Einladung zu weiteren Anmerkungen seinerseits zu sein, was nur zu verständlich war. Geschwätz war das letzte, wonach ihr – aber eigentlich letztlich auch ihm – gerade zumute war. Auf Zens Entschuldigung hin schloss der Vizeadmiral daher kurz die Augen und schüttelte nur den Kopf, andeutend, dass er eine Entschuldigung ihrerseits für überhaupt nicht notwendig empfand. Seit wann war es eigentlich zur Normalität geworden, dass sie sich fürs Menschsein entschuldigen mussten? Er verstand ihre Reaktion nur zu gut, schließlich war er vor kurzem vor der gleichen Situation gestanden und hatte ähnlich reagiert – wenn er auch nach seiner heutigen Meinung Pestage deutlicher hätte kontern sollen. Nicht dass es etwas geändert hätte, aber es würde sich gerade jetzt in diesem Moment vielleicht einfach nur etwas befriedigender anfühlen. Dafür hatte er seine Wut anschließend an seiner Adjutantin ausgelassen, allerdings nicht die Freundlichkeit Zens besessen, sich im Anschluss daran davon zu distanzieren. Nun, robusterer Umgangston war im Militär Realität und jeder musste lernen, mit diesem klarzukommen. Und so war Cassio eben. Das war zwar nicht immer so gewesen, aber die Zeit, als es nicht so war, war ohnehin nur noch eine blasse Erinnerung. Oder vielleicht konnte er es, aber er hatte nicht die Absicht, es zu tun.

Nachdenklich trat Cassio die vier Stufen, auf denen Zen saß, zum Boden hinab. Der steinerne Grund knirschte unter der Feuchtigkeit und der Sohle seiner Stiefel, als er dort stehenblieb.
„Zumindest verpassen wir es nicht, noch irgendetwas nach unserer Wahl nachholen zu können“, meinte er schließlich, was auch wieder einen gewissen Hauch an Zynik beinhaltete, dann aber gleichzeitig doch als positivere Aussicht erschien als eigentlich zu erwarten gewesen war. Denn tatsächlich mochte diese geringe Wahl am Ende immer noch mehr sein als anderen imperialen Soldaten, die im Krieg der Rebellen gefallen waren, zuteil geworden war. Cassio griff mit seiner Linken nach dem Schirm seiner Mütze und setzte diese ab, ließ ein paar Regentropfen auf seinem Gesicht platzen, ohne seinen Scheitel nach Tragen der Mütze zu richten, wie er es sonst zu tun pflegte. Schließlich drehte er seinen Körper leicht und blickte zu der Frau hinüber, jetzt, durch das Herabsteigen von den Stufen mehr auf Augenhöhe denn vorher. Ein paar Momente lang musterte er sie lediglich von oben bis unten. Flinke Pupillenbewegungen, beinahe als suchte er etwas an ihr, bis sie doch irgendwann an ihrem Gesicht zum Stoppen kamen.
„Bis bald, Zen“, sagte er, während er sie noch immer betrachtete, doch in seiner Stimme schienen unterschwellige Zweifel darüber, dass er die Offizierin noch einmal sehen würde. Cassio war bekannt, dass Suizid unter Offizieren, denen aussichtslose Aufgaben übertragen wurde, ein Thema war – und wahrscheinlich hatte er selten eine Person gesehen, der er es mehr zugetraut hätte als Daro Zen nach diesem Gespräch. Vermutlich könnte er es sogar verstehen.

Erst nach ein paar Sekunden wandte er ihr den Rücken zu und schritt auf die Landeplattform zu, während er die Offiziersmütze wieder auf seinem Kopf platzierte. Wer ging schon freiwillig in einen womöglich schmerzhaften, unwürdigen Untergang, wenn es einfachere Methoden dafür gab, oder auch Desertation? Eigentlich tat das nur der, der dadurch noch immer etwas beweisen musste. Wie er, der nicht wollte, dass von ihm geschrieben stehen würde, dass ein imperialer Stabschef feige gewesen war. Während Cassio auf den Shuttle-Piloten zuging, fragte er sich allerdings bereits, ob das überhaupt ein Beweis war, den er erbringen konnte oder ob er nicht weit weniger heldenhaft war als die meisten Soldaten von sich dachten.
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