#26
Nach kurzer Überlegung entschied sich Cassio dazu, die Worte von Vaash so stehen zu lassen. Natürlich kümmerte sich das Imperium nicht um den Einzelnen. Warum auch? Es war ein Staat. Ein Staat mit faschistoidem Einschlag kümmerte sich um das Gemeinwohl, unabhängig davon, ob Einzelne – oder gar ganze Volksgruppen – davon Schaden erleiden würden. Solange es das Gesamtgebilde stärkte, war jedes Mittel Recht. Toleranz war eine Schwäche, die die Mehrheitsgesellschaft zu spalten drohte. Nur eine geeinte Mehrheit würde diesen Krieg gewinnen können. Das zumindest war das, was die imperiale Propaganda erzählte. Glaubte Cassio noch daran? Hatte er jemals daran geglaubt? Wer wusste das schon. Zwei Fragen, auf die er keine Antwort hatte und wohl auch nie haben würde. Doch nur weil der Staat als solcher so war, bedeutete das freilich nicht, dass man sich und seine Persönlichkeit komplett an ihn abtreten musste. Jeder Mensch war voll von Wünschen und Träumen – und wenn es nur war, dass man der Nachwelt einigermaßen solide hinterlassen wurde. Das war bescheiden, aber es war zumindest etwas. Nein, Vaash hatte Recht damit, dass das Imperium sich darum nicht kümmerte. Wie auch kein anderer Staat. Aber der entscheidende Punkt war, dass das nichts, aber auch gar nichts daran änderte, dass diese Dinge dennoch in jedem existierten. Das Imperium zerstörte und schuf Wünsche, aber welche das am Ende waren, war immer noch jeder Person selbst überlassen. Hatte Vaash keine mehr? War ihm alles gleichgültig geworden? Wenn der Person Vaash egal war, was die Person Vaash wollte, dann war das kein Problem des Imperiums, sondern ein Problem der Person Vaash. Insofern empfand Cassio die Antwort des Alten als ein Stück weit vorgeschoben, um sich hinter der verborgenen, ungreifbaren Fassade des Staates zu verstecken, weil es die leichtere Antwort war als das Eingeständnis, dass der Admiral offensichtlich im Moment als Person zerstört war. Vielleicht wäre es insofern doch besser, wenn das Oberkommando entschied, den Mann gehen zu lassen, da er in diesem Zustand zweifellos eine Gefahr für sich und seine Soldaten wäre. Nun gut, das war Cassio auch. Ihm war sehr wohl bewusst, dass das Kommando, das er erhalten würde, für die ihm unterstellten Männer eine Katastrophe werden würde. Zum einen weil er seine Fähigkeiten einzuschätzen wusste, zum anderen weil er voraussichtlich dort eingesetzt werden würde, wo die Chance auf einen ehrenhaften Tod groß war. Zumindest wenn Pestage sich gegenüber dem Oberkommando durchsetzte.

Mit einem Punkt hatte Vaash indes Recht. Offensichtlich vergaß man Eriadu nicht. Man sah es unzweifelhaft an Cassios Gegenüber. Und auch Cassio selbst würde es auch nicht vergessen, obwohl die Schlacht für ihn faktisch nicht dramatischer war als jede andere größere Operation, an der er beteiligt gewesen war. Im Gegenteil waren die Verlustzahlen damals im Kampf gegen Großadmiral Pittas Sektorgruppe nahe Corellia sogar weitaus höher gelegen als nun während Operation Festung. Der Unterschied war, dass es einmal kalkulierte Verluste waren, die sich im Verlaufe einer militärischen Operation immer zwangsläufig ergeben mussten und dass das strategische Ziel dennoch erreicht wurde. Es war ein Sieg. Eriadu war eine Niederlage. Paradoxerweise hatte der komplette Sieg nahe und auch direkt über Corellia dennoch mehr Blut gekostet als diese Niederlage. Es gelang Cassio nicht, bei diesem merkwürdig ironischen Gedanken keine Spur von Amüsement in sich zu spüren. Ja, vielleicht war er wirklich etwas zynisch geworden. Es blieb einem letztlich auch nicht viel mehr übrig als Galgenhumor.

Als der Alte im Repulsorstuhl schließlich zusagte, nickte Cassio zunächst bloß und stellte anschließend sein leeres Glas wieder auf dem Tisch ab. Ihm war nicht entgangen, dass das von seiner Seite an Vaash angebotene Glas noch immer unberührt vor diesem auf dem Kartentisch stand, aber letztlich spielte das keine Rolle. Und auch nicht, ob er die durchaus menschenverachtende Symbolik dahinter tatsächlich begriffen hatte. Er, Vaash, hatte das akzeptiert, was Cassio sagen wollte, ob jener es nun betrank oder nicht. So setzte sich das ungleiche und doch irgendwie gleiche Paar allmählich in Bewegung, verließ das leere Stabsbüro und folgte dem langen Gang entlang bis zur Shuttle-Landeplattform, gefüllt mit einigen Passagieren der Fähre, die sich die Wartezeit an der Luft und nicht im stickigen Inneren der Lambda vertreiben wollten. Eine frische Windböe brauste über die Plattform und am Horizont zeichneten sich künstliche Regenwolken ab, nachdem der Planet infolge seiner Bebauung auf natürlichem Wege dazu gar nicht mehr in der Lage war. Hier wie dort lag der Schein in der Luft, man konnte ihn atmen, spüren und fühlen. Man wusste, dass er da war und eine Illusion aufrecht erhielt, an die man sich gerne zurückerinnerte. Schweigend trat Cassio an den vor dem Shuttle Wache haltenden Flotteninfanteristen vorbei, trabte gedankenverloren die Rampe hinauf, bis alle Passagiere schließlich das Shuttle betreten hatten und es abhob, in Richtung des Scheins, in Richtung der Regenwolken, die sich hinter dem grotesken Mahnmal zusammenzogen, das man allseits als Imperialen Palast bezeichnete.


--> Imperialer Palast, Großer Festsaal
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