#22
„Vesperum ist tot“, widersprach Cassio überdeutlich und kopfschüttelnd, ohne Vaash aber anzusehen, während er sich von dem kleineren Tisch neben dem Kartentisch ein Glas nahm und sich einen Schluck corellianischen Whiskey eingoss. Dieses Mal hatte er den Umstand, dass Vesperum tot war – ein Umstand, den er zuvor als Erzählung, als Legende formuliert hatte – als klares Faktum festgestellt; in einer nackten, ungeschönten Art, die nicht weniger endgültig als der Tod der angesprochenen Person selbst schien. Kaum jemand hatte es bislang gewagt, es offen zu sagen, aber es war im Grunde dennoch jedem klar. Das Imperium zog diesen toten Kadaver immer noch hinter sich her, in der Hoffnung, dass er einmal auferstand, auch wenn jeder wusste, dass er nicht wiederbelebt werden konnte. Es half dem Imperium jedoch nicht, sich hinter Worthülsen zu verstecken und die Realität anzuzweifeln. Unter keinen anderen Umständen wäre ihr Herrscher für Monate verschwunden, ohne sich bemerkbar zu machen. Nun war es an der Zeit, diesen Umstand auszusprechen und zu verarbeiten. Es war die Zeit, nach vorne zu sehen und nicht das Alte und den Verlust zu betrauern. Dafür war noch Gelegenheit, sobald sich die galaktische Situation beruhigt hatte. Zögern und Zaudern führten nur in den Untergang. Es gab zahlreiche Probleme, die angegangen werden mussten und keinen Aufschub duldeten, einen Aufschub wegen einem eigenartigen Anflug von Sentimentalität über einen Herrscher, den sie alle nur ein paar Monate gekannt hatten. Zweifellos war Vesperum wichtig für das Imperium und es wäre der Moral zuträglich gewesen, den Imperator wieder präsentieren zu können, aber nun galt es zwangsläufig, ohne ihn auszukommen. Und die Konsequenzen dieser Tatsache so gering wie möglich zu halten. Sie hatten einen Krieg zu führen, einen Krieg um das reine Überleben. Imperiale Offiziere hatten keinen Grund zu der Annahme, Gnade oder Gerechtigkeit nach dem Krieg durch die Republik erfahren zu können. In dieser Situation würden wenige allein für das Zentrum oder nur für das Imperium kämpfen. Nein, in dieser Situation kämpfte auch jeder für sich selbst. Jeder auf seine Weise. Ishin-Il-Raz verführte die Jugend in den Glauben, dass der Krieg die Erfüllung jeder Existenz war und die Mutter aller Ehre. Tiberius Vaash war derjenige, der seinen Beitrag an der Front leistete und damit rechnen musste, in der Verrichtung dieses Dienstes jederzeit fallen zu können. Und Cassio? Nun, bis vor kurzem war die Antwort klar gewesen, doch mit der Entlassung hatte es sich verkompliziert. Er würde seine Stelle finden müssen. Er würde tun müssen, was jeder an seiner Stelle tun würde. So wie Sate Pestage.

Er tut das, was jeder Politiker an seiner Stelle getan hätte. Der Moment ist günstig, also nimmt er sich das, was er will. Er selbst ist nichts weiter als eine Funktion, die sich mehr anmaßt, als sie eigentlich dürfte.

Nachdenklich betrachtete er die wogende bräunliche Flüssigkeit im Glas und reflektierte darin Vaashs Worte. Traf das nicht auch auf Vaash zu? Hatte Vaash etwa nicht einen günstigen Moment abgepasst, um sich etwas anzumaßen, was er nicht durfte, nämlich eine Entscheidung darüber zu fällen, ob Pestage der richtige Mann war? Nach Cassios Auffassung war das eine Entscheidung, die niemals ein Militär treffen durfte. Das Militär hielt sich aus der Politik heraus, Politik – nicht nur die des Imperiums – beschmutzte die eigene Ehre der Streitkräfte. Doch Vaash hatte das getan, er hatte Politik gemacht. Er hatte sich über das Militär erhoben und sich in Staatsangelegenheiten eingemischt. Vielleicht war es richtig gewesen. Ja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wer konnte das nun schon sagen? Niemand würde erfahren, wie Sate Pestage das Imperium direkt nach Endor gelenkt hätte. Alternative Geschichte war unmöglich präzise vorherzusagen. Fakt war, Vaash hatte damals eine Grenze überschritten – und das war ihm zweifellos bewusst. Er hatte sich an eine unbekannte Gestalt gebunden und Sate Pestage hintergangen. Er hatte entschieden. Und diese Entscheidung wirkte heute, nach dem Verschwinden seines Verbündeten Vesperums, nach. Erneut hatte Pestage die Macht ergriffen und somit stellte sich die Situation wieder so dar, wie sie vor Vesperum der Fall gewesen war.
„Und was ist nun anders?“, fragte Cassio präzise und fixierte das Gespräch somit auf den entscheidenden Punkt. Der Punkt, dessen Beantwortung je nachdem dafür sorgen konnte, dass Cassio seinerseits jederzeit die Sicherheit rufen und Vaash festnehmen lassen konnte. Würde er das im Fall der Fälle tun? Kaum. Es war Cassio egal. Selbst wenn Vaash jetzt zum Staatsstreich aufrufen würde, hätte der Vizeadmiral in diesem Moment wohl lediglich mit den Schultern gezuckt. Cassio würde sich nicht daran beteiligen. Die Frage war wohl nur, wo Vaash seinen Gegenüber einordnete. Oder? Oder war Cassios Loyalität in den Augen vieler bereits zweifelhaft? Möglich. Cassio konnte es nicht mehr einordnen. Es schien, als ließe ihn seine recht gute Einschätzungsgabe im Stich. Etwas anderes war jedoch immer noch offensichtlich. Der Vizeadmiral hob das Glas zu einer Geste, die klarmachte, dass er seinen gerade begonnenen Gedanken weiterführte.
„Denn falls Sie immer noch der Ansicht sind, dass der Mann diesen Staat nicht lenken kann, nicht lenken darf, dann haben Sie dieser Tage ein Problem. Er wird es nämlich wieder tun.“
Tiberius Vaash hatte somit nur zwei Optionen. Entweder er fand sich damit ab und erduldete einen Imperator namens Pestage, so wie es Cassio getan hatte und auch jetzt wieder tat. So wie es ein guter Soldat tat. Oder zumindest einer, den Cassio dafür hielt. Damit verriet Vaash aber seine Überzeugungen, die, für die er sich bereits einmal kämpferisch gegen das eigentlich legitimierte Imperium gestellt hat. Wenn es ihn so in der Brust schmerzte wie letztes Mal schien das indes unwahrscheinlich. Die einzige Alternative war, sich erneut gegen Pestage zu stellen und ihn ein weiteres Mal zu verhindern. Mit dem Unterschied, dass Vaash dieses Mal keine Führungsfigur wie Vesperum als Ersatz vorweisen konnte. Dieses Mal würde ein Verrat offenkundiger werden. Er würde sein Ansehen und seine Ehre vor dem Imperium beschmutzen, vielleicht auch vor sich selbst. Aber war es nicht genauso schlimm, einen Teufelspakt zu schließen, der sich am Ende als nutzlos erweisen sollte, weil mit Pestage dennoch die Person herrschte, die er mit eben diesem Pakt zu verhindern gesucht hatte? Vaash verlor in beiden Optionen, ganz gleich, welche er ziehen würde. Wenn Cassio den alten Admiral anblickte, so schien es auch so, als wäre das einem Teil von ihm klar. Daher verzichtete der ehemalige Stabschef auf seine ursprünglich geplante weitergehende Frage, was Vaash auf Grund dieses Umstands zu tun gedachte. Zweifellos hätte es ihn interessiert, allerdings aus purer Neugierde heraus. Aus dem gleichen Grund, aus dem ein Kind ein Tier sezierte, um einen Erkenntnisgewinn daraus zu ziehen. Cassio war nun derjenige, der Vaash sezierte – auch wenn dieser das Gespräch vermutlich in der genau entgegengesetzten Richtung erwartet und vielleicht auch zu lenken versucht hatte. Doch im Gegensatz zu einem Kind wusste Cassio, wann er aufhören musste. Letztlich hatte er bekommen, was er wollte: Er wusste, wie Vaash stand und dass die aktuelle Situation für diesen keinen positiven Ausgang zuließ. In diesem Moment akzeptierte der frühere Stabschef, dass Vaash offenkundig nicht gekommen war, um Cassios Loyalität auszuloten – oder jedenfalls nicht so, wie der Vizeadmiral es befürchtet hatte. Vaash war nicht vom ISB gesandt worden, um anti-imperiale Tendenzen oder Verbitterung zu entlocken. Nein, Admiral Vaash wollte lediglich seine Gedanken mit einer Person teilen, die – ganz gleich, wie es mit dem Imperium weiterging – im Prinzip nur verlieren konnte. Eine Person wie Cassio. Ob bewusst, gewollt oder nicht, sie saßen nun in gewisser Weise im gleichen Boot. Fraglich mochte nur sein, wessen Boot zuerst unterging.

Für Cassio war der Alte im Repulsorstuhl in diesem Moment ein bestätigendes Beispiel dafür, was passierte, wenn Militärs sich in Staatsangelegenheiten einmischten. Es war einfach ein anderes Terrain, eins, in dem man als Militär nur verlieren konnte. Doch diese Bestätigung erfüllte Cassio keineswegs mit Genugtuung. Zwar befriedigte die Tatsache, dass ein Militär, der versuchte, Politik zu machen, scheiterte, andererseits aber änderte auch das nichts daran, dass Cassios eigene Situation dadurch nicht besser wurde. Auch ein unpolitischer Soldat wie er konnte also in eine solche Situation geraten. Letztlich war das Heraushalten daher möglicherweise nutzlos. Dennoch würde Cassio nicht so weit gehen zu sagen, dass es jemals geboten sein konnte – in diesem Punkt unterschied er sich noch von Vaash. Obwohl es letztlich viel über das Imperium aussagte, wenn sich derart viele Untergebene nach dem Tod des Gründers und ersten Imperators losgesagt hatten. Es war notwendig, hatte Vaash gesagt. Fakt war dennoch: Wenn es keiner für notwendig angesehen hätte, wäre es auch nicht notwendig geworden. Ohne die zahlreichen Abspaltungen wäre das Imperium auch nach der Niederlage über Endor ohne Probleme intakt geblieben und hätte die Rebellion weiter durch die Galaxis jagen können. Die Eigendynamik der Abspaltung hatte jedoch so viele erfasst, dass andere offensichtlich eine Notwendigkeit interpretiert hatten, das Imperium selbst zu kurieren. Eine Abspaltung vom Imperium, um das Imperium zu retten. Das war es wohl, was Vaash meinte. Für Cassio war das indes ein Paradoxon. Doch wo er es bei Personen wie Grunger als ein schlicht vorgeschobenes Motiv ansah, um lediglich Einfluss zu erwerben, zeigte sich anhand von Vaashs Ablehnung der Beförderung, dass dies nicht dessen Motivation gewesen sein konnte.
„Sie können das Imperium nicht retten, Vaash. So oder so“, sagte Cassio erneut mit einem Anflug eines Kopfschüttelns, fast so als habe er die Absicht, Vaash vor einer großen Dummheit bewahren. Anstelle das Glas, das er mit sich herumgetragen hatte, selbst leer zu trinken, stellte er es vor Vaashs Repulsorstuhl auf dem Kartentisch ab.
„Der Einzelne ist dem Imperium nicht mehr wert als dieses Glas. Eher sogar weniger.“
Binnen eines Augenblicks hatte Cassio sich umgedreht und trug auch wieder selbst ein eigenes Glas in der Hand, das er Vaash kurz entgegenreckte.
„Nur wenn Sie das akzeptieren, haben Sie eine Chance“, fuhr er fort, ließ aber offen, welche Chance er damit meinte. Mit einer lockeren Bewegung schüttete er den wenigen Whiskey in seinem Glas den Rachen hinunter. Ja, er hatte es akzeptiert, vor langer Zeit schon. Ihm bereitete das keine Kopfzerbrechen mehr. Glaubte er. Doch war es bei Vaash auch so?
Offline
Zitieren
 


Nachrichten in diesem Thema