#9
Entscheidungen. Sedrael seufzte innerlich. Ja, jedes Wesen traf sie, ob nun bewusst oder nicht. Jede Handlung war eine Entscheidung, jede Nichthandlung ebenfalls. Selbst ein willentlich nicht zu kontrollierender Reflex war eine Form der Entscheidung, nicht? Nur eben eine Entscheidung innerhalb des vorgegebenen Instinkts, nicht die eines Willensprozesses, durch den allein man zu einer bewussten Entscheidung gelangte. Dennoch stand eine reflexartige oder instinktive Entscheidung genauso im Raum wie eine durchdachte Handlung. Es änderte also an der Qualität einer Entscheidung zunächst nichts, egal ob sie nun willentlich war oder nicht. Die Frage einer freien Gestaltbarkeit durch den Handelnden war mehr die Frage einer moralischen Bewertung. Ein reiner Reflex war in den Augen der meisten Personen nicht verwerflich, weil man nun einmal gar nicht die Möglichkeit besessen hatte, ein Alternativverhalten an den Tag zu legen. Man konnte einen Reflex nicht unterdrücken, er war naturgegeben. Vorwerfbar waren also nur solche Handlungen, die darauf beruhten, dass man sich bewusst und frei für sie entschieden hatte. Und wie entschied man sich für etwas? Man dachte nach, man ging in sich. Das Gehirn verarbeitete Informationen. Der Körper war zunächst einmal nur reine Biologie. Er arbeitete wie eine sorgfältig programmierte Maschine, nur eben eine durch Genetik bestimmte Maschine, in der jede Zelle, jede Synapse ihre zugewiesene Aufgabe erfüllte und sich wie eine künstliche Intelligenz beständig weiterentwickelte. Doch alles basierte auf diesem einen Ursprung. Niemand in diesem Universum hatte sich sein Genom ausgesucht, hatte diesen massiven Computer in seinem Kopf selbst zusammengestellt, sondern jeder war damit geboren worden. War es also nicht logisch, wenn man behauptete, dass dort schon alles, was man später tun würde, in dieser kleinen Veranlagung gegeben war, dass alle Handlungen nur die konsequente Fortsetzung dieses Ursprungs waren? Jede Erfahrung und jede Handlung, die man anschließend machte, waren schließlich von diesem Ursprungszustand abhängig gewesen, auf Grund dessen man sich anschließend weiterentwickelt hatte. Doch wäre der Ursprungszustand nur ein wenig anders gewesen, hätte man sich vielleicht ganz anders entwickelt, mit ganz anderen Erfahrungen, ganz anderen Ansichten, ganz anderer Moral. Und wenn dieser Ursprungszustand nun einmal gerade keine Willensentscheidung war, sondern etwas, das einem von der Natur mitgegeben war, war dann jedes Verhalten, jede Entscheidung, durch die man sich und seine Persönlichkeit entwickelte, nicht logischerweise nur eine Art des Reflexes? Faktisch spielte es keine Rolle, die Entscheidung stand im Raum, gleichgültig aus welcher Veranlassung sie nun vorgenommen worden war. Doch es mochte einen moralischen Unterschied machen.

Ja, Sedrael hatte sich entschieden. Es war ihre Entscheidung gewesen, mit Nigidus fortzugehen, nicht einzuschreiten und nun hier zu bleiben. Doch wie frei und unverfälscht waren diese Entscheidungen letztlich, von der die Frau vor ihr sagte, sie habe sie frei gestaltet? Freiheit war nicht messbar, sie war nur ein Gefühl, das sich rein relativ bemaß. Der gleiche Umstand konnte von einer Person als freiheitsbeschränkend empfunden werden, von der anderen dagegen nicht. Somit war Freiheit an sich rein subjektiv – und Sedrael selbst hatte ihre Entscheidungen gerade nicht als wirklich freien Willensprozess empfunden.
„Hm“, machte die Jedi nachdenklich, nur ein kurzes, halblautes Geräusch, das verkündete, dass sie die Äußerung der Inquisitorin zur Kenntnis genommen hatte, ihr jedoch vielleicht nicht vollständig zustimmte. Für den Augenblick würde das genügen müssen. Sie würde ihre Gegenüber an dieser Stelle noch nicht in ihre Erklärung, in ihre Philosophie einblicken lassen, solange sie diese nicht genauer einzuschätzen wusste. Einschätzen verlief über vielerlei Wege. Die Wege der Macht, wo sich die Gegenpole auf so merkwürdige Art und Weise in diesem kleinen Raum gegenüber standen und dabei dennoch koexistieren konnten, waren aber nur eine Möglichkeit. Das körperliche Wesen, das trotz aller Bescheidenheit nicht vernachlässigt werden sollte, war eine weitere.
„Wenn die Scharade wenig mit mir zu tun hat, ist sie im hiesigen Kreis nicht notwendig“, stellte Sedrael fest, während sie in einer langsamen Bewegung die linke Hand von ihrem Knie erhob, bis sie etwa auf der Höhe des Gesichts ihrer Gegenüber war. Doch sie berührte ihre Gegenüber nicht, nein. Jedenfalls nicht körperlich. Das wäre eine allzu intime Geste geworden, die sie damit nicht anstrebte. Nicht zuletzt, weil ihr die letzte körperliche Berührung unheimlich gewesen war. Stattdessen blieb ihre geöffnete Handfläche auf Abstand zu der toten Fratze und entsandte dann mit der Macht einen Lockruf nach dem begehrten Objekt. Dieses schien anfangs widerwillig zu sein, ehe es sich langsam und vorsichtig löste, um daraufhin jedoch wenig elegant über Sedraels Hand zu schweben. Die Sephi drehte ihre Handfläche nach oben und ließ die Fratze in ihre Hand gleiten, wo sie dann aber etwas ruckartig landete. All das sprach dafür, dass sie in der praktischen Anwendung der Macht offenkundig seit längerem keine Übung mehr besaß – ein Umstand, der sich nur schwerlich verbergen ließ. Jedoch schien Sedrael keine Scham darüber zu empfinden, dass der Hexe diese Tatsache auffallen mochte. In dieser Anwendung war die Macht lediglich eine Form der Spielerei, die manche jedoch viel zu ernst nahmen und dabei vergaßen, worauf es in der Macht eigentlich ankam. Nicht auf Telekinese, nicht auf Machtsprünge, nicht auf merkwürdig choreographierte Kampfstile. Die Macht war so viel mehr. Und wer sich nur darauf beschränkte, war letztlich bloß ein Kind im Körper eines Erwachsenen, der gerne spielte, aber die Ernsthaftigkeit seines Daseins am liebsten ausblendete.

Sedrael befühlte das feine Material der Maske kurz mit ihren Fingern, vermutlich mehr aus Neugier denn aus tatsächlichem Interesse. Die Beschaffenheit erschien ihr ähnlich ungewöhnlich, offenkundig kein Vergleich mit den aus Plastoid bestehenden Masken der weißen Soldaten. Nach ein paar Sekunden senkte sich ihre Hand allmählich und platzierte Gegenstand auf dem freien Boden zwischen den beiden. Erst jetzt öffnete Sedrael ihre Augen wieder. Denn nun waren sie auch tatsächlich auf Augenhöhe. Die kühle Färbung ihrer Haut schien unwillkürlich abzunehmen.
„Ein Gesicht weiß Vieles zu erzählen“, gab sie als uneingeforderte Erklärung für ihr Handeln an, sofern man Worte in dieser Vagheit als Erklärung bezeichnen konnte. Sie sah die Hexe, die Hexe sah sie. Quid pro quo. Vielleicht war es nicht nötig gewesen, um hinter die Scharade zu blicken, doch waren und blieben sie trotz aller spiritueller Fixierung noch immer körperliche Wesen, mit Wünschen und Ängsten, mit Vorlieben, mit Abneigungen. Und das körperliche Wesen war nicht weniger real und nicht weniger wichtig als das, das man in der Macht ausstrahlte. Das Entsagen der körperlichen Existenz durch Verneinung natürlicher, Körper und Geist zwangsläufig in der einen oder anderen Form mitgegebener Dispositionen durch den früheren Orden hatte Sedrael immer schon für etwas verquer gehalten. Ein Dogma, das widernatürlich war, indem es die Existenz bestimmter Faktoren zu unterdrücken versuchte, konnte langfristig keinen Erfolg bringen. Der Punkt musste es sein, bestehende Dispositionen zu akzeptieren und dann mit ihnen umzugehen. Sedrael war aber durchaus klar, dass sie mit ihrer Reaktion – gewollt oder nicht – auf ein erneutes Spiel der Inquisitorin eingegangen war. Das Handeln oder Nichthandeln von Nigidus war zum wiederholen Male darauf gerichtet, Sedrael auszutesten und eine Reaktion zu erproben. Es hatte bereits auf Firrerre begonnen, indem diese ihr das Schwert angeboten hatte. Es war weitergegangen damit, dass sie das Schwert trotz Gefangenschaft behalten durfte. Und nun ein ähnlicher Fall. Dieses Mal hatte sie in der Tat gehandelt, jedoch ausgerechnet dann, als es am wenigsten notwendig schien. Aus Sedraels Sicht wirkte es so, als wolle ihre Gegenüber sie abschätzen. Das störte sie allerdings weniger als es vielleicht sollte. Nachdem die Inquisitorin ihre Anwesenheit jedenfalls im Moment tolerierte und sie nicht direkt umbrachte, gab es auch keinen Grund, ihr Wesen zu verbergen.

Die Frage, die sich stellte – beziehungsweise eine der Fragen, von der Nigidus richtigerweise ausging, dass sie der Sephi auf dem Herzen lagen –, war demnach, warum ihre Gegenüber das tat. War sie eben neugierig, aufgeschlossen? Vielleicht, vielleicht nicht. Solange Sedrael das nicht klarer einschätzen konnte, ob also nicht irgendein merkwürdiger Plan hinter all dem steckte, würde sie die Worte der Frau weiterhin mit Vorsicht genießen, skeptisch bleiben. Daher beschloss sie, diesen Punkt auch als Einstieg ihrer Frage zu nutzen – und nicht den naheliegendsten, nicht den vielleicht quälendsten, nämlich den nach der schaurigen Hologrammgestalt.
„Ihr täuscht Euch nicht“, begann sie nach kurzem Nachdenken. „Es mag für Euch weniger bedeutsam sein, wer ich bin. Für mich ist es aber bedeutend zu wissen, wer Ihr seid. Es ist so lange her, dass ich meinesgleichen traf.“
Ja, sie mochten so verschieden sein und doch änderte das nichts daran, dass sie sich darin ähnelten, Teil des großen Rätsels der Galaxis zu sein, das jeder auf seine Art zu entschlüsseln versuchte. Einerseits machte sie das zu Vertrauten, andererseits zu Gegnern. So oder so waren es aber viele Jahre gewesen, die Sedrael ohne eine derartige Begleitung verbracht hatte. Und eigenartigerweise waren es sodann an einem Tag gleich zwei gewesen – ein Fremder, der mit einem Problem zu ihr gekommen war, das sie nicht hatte lösen können, und schließlich sie, Nigidius. Beide hatte sie nur kurz treffen können und dem einen vielleicht noch dabei geholfen, sein Leben zu retten. Vielleicht auch nicht. Aber nur einen von beiden konnte sie nun, in diesem Moment, konkreter befragen. Wie die Jedi sagten, Konzentration auf den aktuellen Moment, auf das Hier und Jetzt. Niemals ein Blick in Zukunft oder Vergangenheit auf Kosten des Moments.
„Erzählt mir von Euch. Erzählt mir, wer Ihr seid. Und was Ihr seid.“
Bislang wusste Sedrael lediglich, dass die Frau eine Inquisitorin war. Nun war dieser Begriff für Interpretationen offen und konnte Vieles bedeuten. Es sagte nichts darüber aus, wem sie diente, ob sie überhaupt jemandem diente. Es sagte nichts darüber aus, was es mit dem mysteriösen Hologramm auf sich hatte, warum sie aufgrund dessen schleunigst fortmusste. Sie war nicht als das bezeichnet worden, was Sedrael als am naheliegendsten erwartet hätte: Als Dunkle Jedi. Oder als Sith? Beides war aber jedenfalls nicht geschehen. Es gab hunderte verschiedene Machtgruppierungen in der Galaxis und nur wenige würden sie alle in einer Lebensspanne kennenlernen, geschweige denn studieren können. Vielleicht war diese Gruppierung von der Finsternis schlichtweg ähnlich geknechtet worden wie andere, schwamm nun als verlorener Fisch mit im Strom, getrieben vom Schwarm, der die Richtung vorgab. Oder aber sie war tatsächlich gern Teil des Schwarms und Sedrael projizierte hier nur eigene Wunschvorstellungen und Hoffnungen hinein, die sich am Ende als falsch erweisen sollten. Es ging bei ihrer Frage aber nicht darum zu werten oder zu urteilen. Nichtsdestotrotz war nicht zu leugnen, dass sich die Präsenz des Hologramms und die ihrer Gegenüber massiv unterschieden. Das Gefühl, vor der Hexe zu sitzen, war… nun, nicht angenehm, aber bei weitem nicht so massiv unangenehm für Sedrael wie der Frostbrand, der die Brücke des anderen Schiffes erfasst hatte, als das fremde Hologramm erschienen war. Es war so gewesen, wie sie sich die pure dunkle Seite ausgemalt hatte, wie man es ihr nun einmal beigebracht: zügellos, völlig enthemmt, ruhelos, wirr. Dies hier, hier in dieser Zelle, war anders, spürbar anders. Und so war die Frage, warum das so war. Warum war die eine Person als Wesen kaum mehr zu erkennen, vernebelt durch die pure Abart ihrer teuflischen Existenz, die ruhelos durch die Macht geisterte, während die andere hier geradezu diszipliniert, ruhig, im Reinen mit sich vor ihr saß?
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