#5
Sie wünschte, sie würde auch so etwas sehen. So etwas, was in ihr Freude bereitete, sie sich gut fühlen liess, sie positiv antrieb- aber nein. Sie sah nur die Augen ihrer Schwester, wie sie langsam ihr Funkeln verloren, immer matter wurden und sie schliesslich wie eine ihrer tausend Puppen an der Wand hinuntersank, zu Füssen ihrer Zwillingsschwester lag und ihr einmal, zwar tot, die Schuhe küsste, so, wie sie es bei ihr fast immer getan hatte. Jedoch überkam sie keine Genugtuung über diesen Umstand. Sie fühlte etwas, was sie kaum benennen konnte. War es Schuld? Es war Schuld die sie ergriff. Sie war schuld. Am Tod ihrer eigenen Schwester. Sie war es. Sie alleine. Es war keine Heldentat gewesen, ihre Schwester zu töten. Sie hatte von vielem eine Ahnung aber nicht davon, sich zu wehren. Es war auch kein Akt der geplanten Boshaftigkeit, die sich entlud und Genugtuung brachte- es war blosser Affekt gewesen. Ein Affekt aus sehr niedrigen Beweggründen. Eigentlich wollte sie nur mit ihrer Schwester reden und konnte dann kaum mehr aufhören, auf sie einzustechen, auch als sie am Boden lag und bereits tot war. Ilara wurde von einer wilden Wut gepackt, trat den toten Körper gegen die Wand, der ihr so ähnlich sah. Ähnlich… ihre Augen weiteten sich. Sie sah nicht ihre Schwester an. Sie sah sich im Schatten. Das war nicht mehr ihre Schwester. Ein leiser, keuchender Laut entkam ihr bei dieser Erkenntnis. Ihre Schwester war gewichen. Sie sah sich entgegen. Dem Monster. Aber nicht dem wölfischen, erhabenen Tier sondern dem dreckigen, ranzigen und verlotternten Vieh, das wirklich ein Monster war und kein bisschen eine Anmut oder gar etwas hatte, was anzog. Ein Monster… sie besah sich. Eingefallene Augen, tiefblaue Augenringe, krank-strahlende, gelbe Augen, eine fahle Haut, die stellenweise so trocken schien, als würde sie gleich bröckeln. Ihre Lippen bläulich, die Mundwinkel aufgerissen und auf einmal traten schwarze Linien in ihr Gesicht, frassen sich durch die Venen. Eine lebendige Tote starrte ihr entgegen und sie wollte einfach nur noch schreien als sie in den Spiegel ihrer eigenen Selbst sah.
Das sanfte Blau konnte sie auch nicht mehr retten, schien ihr nur noch mehr Kraft abzuzapfen. Energisch riss sie sich von ihrem Phantasmagoria los und starrte in die Dunkelheit, die fast vibrierte. Sie war hässlich. Sie zerfiel. Ihr letzter Triumph, ihr blosses Aussehen, schwand mit vorschreitender Dunkelheit immer mehr. Auf seine Feststellung konnte sie nur schlucken, da ihr Rachen vollends trocken war. Ihre Lippen schienen förmlich aufzuspringen, je näher sie kam. Jeder ihrer Schritte kam ihr wichtig und epochal vor, sie musste sie gerade gehen, auch wenn die Hand dieses Mannes, dem sie einfach so folgte- nein, das war nicht richtig- immer tiefer in den Stoff ihrer Kutte krallte. Auf einmal durchfuhr sie eine Kälte, die ihr bis auf die Knochen schmerzte. Sie zerriss sie beinahe, von innen. Zehnmal stärker als der schärfte Schüttelfrost. Die Kälte schien ihr alles zu entreissen. Gefühle, Mitleid, gar ihre Kraft sich zu bewegen. Es zog ihr die blanke Lebensenergie ab. Keuchend blieb sie stehen und hoffte, dass er bald losliess. Lange hielt sie das nicht mehr aus. Er würde sie töten, ganz alleine mit seinen Fingern und dieser unheimlichen Macht, die sie in jeder einzelnen Faser ihres eigenen Körpers fühlte. War es nicht das, was sie wollte? Jemandem folgen, der Macht besass? War sie jemand, der folgte? Sie wollte der Anführer sein, aber es ging nicht. Sie wusste es ja selbst. Er hatte viel mehr Macht, die nun um sich griff. Ilara durfte sich nicht umdrehen, musste nur den Fuss vor den anderen setzen, atmen, das tun, was einen am Leben hielt. Für mehr war keine Kraft, keine Zeit und keine Verwendung. Endlich liess er sie los und sie fiel auf ihre Knie, auf den kalten Boden, sass jedoch aufrecht da, hinter ihm, starrte auf den dunklen Stoff vor sich, die Hände lasch am Körper hängend, fühlte, wie ihr eigenes Blut ihre Kehle hinablief, ganz von alleine, bis der Griff um ihr Hals sich löste. Die Furcht, die sich wie ein dunkler Schatten an ihrer Kehle festgesaugt hatte verschwand. Sie schloss die Augen und schluckte, lauschte den leisen, beinahe irre wirkenden Worten Vesperums. Was war das hier? Sie würden den Weg zurückmüssen. Nochmals diese Höllenqualen? Für was? Für ein bisschen von dieser Macht, die in einer alten, verdammten Grotte lag? Ihre Hand ballte sich zu einer Faust und mit einem Ruck stand sie wieder. Wenn sie fiel, dann nicht kniend, garantiert nicht. Wenn sie fiel, dann aufrecht, den Blick starr an das geheftet, was ihr das letzte Bisschen Leben entriss. Er war es. Er… dieser Kerl, der nun mit einer Macht das Tor öffnete, die keiner mehr nach einem solchen Marsch und solchen Tortouren mehr haben konnte.
Sie sah ihn an, als er sie losliess. Sie waren da? „Wo?“, fragte sie jetzt ruhig geworden, versuchte sich selbst zu beruhigen, was nun auch klappte, da der Schatten verschwunden war. Sie starrte in seine Augen. Sie sahen genauso aus wie die, die sie in ihrem Bild gesehen hatte nur viel, viel elendiger. Ihr wurde direkt wieder kalt und sie folgte dem Impuls nicht, einen Schritt zurückzutreten. Sie blieb stehen und schluckte, besah sich die Fratze genau, jedes bisschen der absoluten Entstellung seines Gesichtes. Sah sie auch so aus? Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein. Ihr Herz raste wieder los, nun wieder vom Leben ergriffen und als er eintrat blieb sie erst stehen. Ihr Blick glitt vorsichtig über die Stauten an den Wänden, die so aussahen, als würden sie gleich in den Raum springen und alles vernichten. Sie erkannte eine Treppe vor sich im Dunkeln, die nur von einigen Fackeln, die seltsames, unwirkliches, dunkles Licht verströmten erhellt wurde. Sie blieb vor der Schwelle stehen, als ihr Blick auf Vesperums Hinterkopf zu liegen kam. Wenigstens der sah noch halbwegs normal aus. Langsam hob sie eine Hand und besah sie im fahlen Licht. Sie sah nicht wahnsinnig verändert aus. Klar, sie war dürr geworden, ausgetrocknet- aber sie sah nicht halbtot aus. Ihre Hand strich über ihr Gesicht. Trockene Haut, jedoch keine Falten. Sie tastete ihre Augengegend ab, fühlte kein dumpfes Gefühl wie von Augenringen. Es mochte der Situation unangemessen erscheinen, dass sie sich um ihr Aussehen sorgte, aber es war das, was sie ausmachte. Als sie einige Kraft in sich selbst getankt hatte, ihren Körper wieder richtig wahrnahm, ihr seidiges Haar gespürt hatte, sich sicher war, dass man mit etwas Creme, Zuneigung und Zeit wieder ein ansehnliches Äusseres erreichen konnte trat sie ein. Ein seltsames Gefühl durchfuhr sie, als sie mit beiden Händen in der Halle stand und sich umsah, ihren Körper bis auf die letzte Zelle angespannt. „Was sucht Ihr?“ war alles, was sie fragte. Was auch immer er wollte schnappen und weg hier! Auch wenn es sie magisch nach vorne zog.
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