#2
Eine kleine Brise Wind, oben auf der Klippe. Einzelne, winzige Wolken, die sich unten im Meerwasser spiegelten, schnitten sich weiter entfernt im Horizont. Hinter ihm das Haus, leicht dämmrig beleuchtet. Cassio stand dort und betrachtete tonlos das ruhige Treiben vor sich, wie das Wasser beständig gegen die weiter entfernten Abhänge schlug. Ein Blinzeln lang, zwei, drei. Diese Ruhe. Sie war seltsam, ungewohnt. Und vor allem... konnte irgendetwas in Cassio sie nicht ausstehen. Rastlos untätig zu sein – was andere entspannte, ließ ihn brüten. Angespannt pochten zwei Finger seiner Hand bereits minutenlang gegen seinen Oberschenkel, kompensierend, als müsse irgendwo Energie entladen werden. Eigentlich hatte er gedacht, dass zumindest ein Teil von ihm froh sein würde, nach so langer Zeit etwas Ruhe und Rückzug zu haben. Stattdessen fühlte er sich mehr zum Nichtstun verdammt, so dass er am Ende vor allem feststellte, dass er mit sich selbst nicht viel anzufangen wusste. Was sollte er auch machen? Bücher lesen? Holo-Dramen ansehen? Wie nutzlos. Von der Schaltzentrale der großen Entscheidungen in einen stupiden Alltag, in dem die aufregendste Frage war, was es mittags zu essen gab. Dieser scharfe Schnitt passte nicht, er fühlte sich einfach falsch an. Cassio kaute an seiner Unterlippe. Natürlich war ihm stets klar gewesen, wie wichtig ihm die Arbeit geworden war, welchen Raum sie für ihn eingenommen hatte. Aber er hatte dabei eigentlich auch nie Zufriedenheit oder gar Freude empfunden – doch jetzt kam er nicht umhin zuzugeben, dass er nun weitaus unzufriedener war. Es schien so... unbeendet. Als habe man dem Künstler sein Kunstwerk genommen, ehe er es fertigstellen konnte, und nun blickte er darauf und stellte fest, dass es so einfach nicht genügte. Unfertige Werke waren unbefriedigend. Diese gewisse Zwanghaftigkeit zum Tun, zur Handlung hatte er schon kurz nach seiner Ankunft, vielleicht nach ein paar Tagen, erkannt, doch sie wurde mit jedem Tag merklicher. Und irgendwann kam auch die naheliegende Frage, ob da nicht sogar noch mehr dahintersteckte. Die Frage irgendwo tief in seinem Unterbewusstsein, die immer mal wieder kurz hervorkroch und sich nur einen Augenblick lang zeigte – anfangs jedenfalls, dann doch von Mal zu Mal länger. Nämlich die Frage, ob er womöglich doch mehr an Rang und Namen, ja an der Schmeichelei des Einflusses und der Bedeutung interessiert war, als er von sich eigentlich gedacht und erwartet hatte. Die Frage, ob ihm sogar der Krieg selbst... nicht vielleicht auf irgendeine seltsame Weise doch gefallen hatte. Konnte man daran tatsächlich Gefallen, einen Reiz finden? Vor kurzem noch hätte er es als Stabschef verneint – vehement, brüsk sogar. Als lächerlich bezeichnet. Aber jetzt, wo das alles fort und außerhalb jeder Reichweite war, schien doch ein Teil von ihm zu fehlen. Womöglich hatte er seine Arbeit im Endeffekt weitaus mehr genossen als er sich bisher hatte eingestehen wollen. Diesen Gedanken empfand Cassio allerdings als befremdlich. Er hatte sich immer als Arbeiter gesehen, der eben seinen Dienst verrichtete. Wie ein Uhrwerk. Nicht weil es ihn groß interessierte oder ihn befriedigte, sondern weil es getan werden musste. Im Unterschied dazu hatte er in seiner Zeit diverse Offiziere getroffen, einige davon mit äußerst ausgeprägtem Sadismus und schonungsloser Brutalität. Es gab Menschen, die hatten dagegen Spaß an der Gewalt, an ihrem eigenen Gottkomplex, dessen Ausleben der Krieg nur allzu leicht eröffnete. Andere dagegen führten ihren fanatischen ideologischen Feldzug gegen das Böse, oder jedenfalls das, was sie dafür hielten, und ihnen war jedes Mittel recht und billig, dieses Ziel zu erreichen. Doch eigentlich hatte Cassio diese Arten von Offizieren immer verabscheut, die Varpasis, die Drommels. Es war menschlicher Abschaum, der nur wegen seiner Eigenschaft als bequemer Bluthund aus dem Käfig gelassen wurde. Sie kannten keine Regeln und kein Gesetz - und selbst wenn, folgten sie ihnen nicht, zumal sie niemand daran hinderte. Dabei sollte das Imperium doch ursprünglich vor allem die Herrschaft des Gesetzes sein. Aber das war längst nicht mehr so. Die Fanatiker hatten sich schon lange tief in den imperialen Körper gegraben und würden es auch nie wieder freiwillig verlassen. Weil es ihnen gefiel. Cassio wollte diesen Leuten nicht ähnlich sein, doch eventuell war er gar nicht so viel anders wie er sich und anderen vormachte. Nur in einem nicht ganz so fortgeschrittenen Stadium. Oder war es am Ende doch ganz einfach und er haderte nur mit der Umgewöhnung? Mit der Aussicht auf das, was kam? Vielleicht. Im Ergebnis war es auch gleichgültig. Cassio hatte nicht vor, bei Pestage zu betteln. Und sollte es in einem ironischen Zufall aus irgendeinem Grund doch dazu kommen, dass er diesem Mann noch einmal gegenüberstand, so hoffte Cassio, dass er in diesem Augenblick einen Blaster bei sich trug. Zumindest etwas, das man als denkwürdige und vermutlich später sogar als „gute“ Tat ansehen würde, hätte er dann vollbracht. Er nickte, nur leicht über seine eigenen Gedanken amüsiert. Wenn es nur etwas nutzen würde, hätte es irgendjemand bereits getan. Aber ob Pestage oder nicht, das Ende des Imperiums war ohnehin besiegelt. Cassio zweifelte daran nicht mehr. Es hatte der Galaxis einfach nichts mehr anzubieten.

Hinter sich registrierte Cassio aus dem Augenwinkel eine schemenhafte Bewegung. Das nervöse Pochen seiner Finger stoppte, instinktiv nahm er etwas Haltung an, ohne es überhaupt zu bemerken. Er drehte seinen Kopf etwas zur Seite, die Brauen leicht angehoben. Seine Tochter war aus dem Hintereingang des Hauses gekommen und kam durch das kurze Gras in seine Richtung. Nur einen Moment sah er herüber, dann wandte er seinen Blick wieder zurück in die Leere vor ihm. Er versteckte seine Hände in den Taschen seiner dunkelbraunen Hose und atmete durch. Auch so ein Punkt. Er war überflüssig hier. Chalya war erwachsen geworden, aufgewachsen ohne ihn – schien weder dadurch etwas verpasst zu haben, noch ihn zu brauchen, auch wenn sie sich bemüßigt sah, den Eindruck zu erwecken, dass seine Anwesenheit sie freute oder das vielleicht sogar tatsächlich der Fall war. Falls ja, erschien Cassio das eher irrational. Über das Geschenk, das seine Adjutantin ihm für sie mitgegeben hatte, hatte sie sich jedenfalls gefreut – wenngleich Cassio dafür nun wahrlich wenig konnte, schließlich war es nicht seine Idee gewesen. Dass sie ihm das zuschrieb, war unerwartet optimistisch; andererseits hatte er seither auch nichts dagegen getan, diesen fehlerhaften Eindruck ihrerseits zu korrigieren. Spätestens seit er mit dem kleinen Ausflug zu den Messingsoldaten von Axum vor kurzem ein schier ewig währendes Versprechen eingelöst hatte, schien Chalya ihm gegenüber überhaupt keinen Missmut mehr zu empfinden. Oder sie zeigte ihn nicht. Nicht dass sie vorher groß einen geäußert hatte – letztendlich schien ihr die Abwesenheit ihres Vaters in den Jahren zuvor auch nicht geschadet zu haben und ab einem gewissen Alter mochte man eine elternlose Zeit sogar als Erleichterung empfinden. Wahrscheinlich war es sogar besser so gewesen, denn er zweifelte daran, dass er bei Anwesenheit besser für sie gewesen wäre. Und so hatte es den Ausflug nach Axum vor allem aus einem Grund gegeben - eine Geste letztendlich, viel mehr war es nicht gewesen. Sie sollte von ihm nicht den Eindruck behalten, dass er sie als unerwünscht oder störend empfand, denn das stimmte letztlich auch nicht. Auch wenn es vermutlich die meisten Leute so empfunden hätten.
„Du bist viel draußen“, sagte sie schließlich, während sie noch ein paar Meter entfernt war.
„Hm“, machte er, dann schüttelte er kurz den Kopf. „Die Luft ist ungewohnt gut. Kein Vergleich zum Zentrum.“
Sicherlich keine Lüge, wenn auch nur ein Teil der Wahrheit. Es war in der Tat so, dass die künstlich aufbereitete Luft des Zentrums im Vergleich geradezu abgestanden und steril war. Das fiel recht schnell nicht mehr auf – doch hier im vergleichbar dünn besiedelt und bebauten Anaxes war das Ganze weitaus natürlicher und angenehmer. Kleinigkeiten. Er entschied aber, es als positiv anzusehen, dass ihm so etwas zumindest noch auffiel.
„Hast du schon eine Zusage bekommen?“, fragte er, ohne ihr wirklich Zeit für eine andere Reaktion zu lassen. Ein etwas längerer Blick auf sie. Sie zögerte. Ihm war bereits klar, was das bedeutete.
„Ja“, entgegnete sie langsam. „Anaxes würde mich nehmen. Wenn ich will, kann ich in diesem Jahrgang einsteigen.“
Cassio spürte, wie sich sein Kiefer ein Stück weit verschob, aber er sagte zunächst nichts, sondern ließ sie weiterreden, nachdem sie beschwichtigend eine Hand hob.
„Ich weiß. Aber die Chancen, zur Flotte zu kommen, stehen momentan gut. Die suchen zur Zeit gute Leute.“
Amüsiert atmete Cassio laut aus, sein Mund verzog sich leicht, was ihm einen zynischen Gesichtsausdruck verlieh.
„Da bin ich mir sicher. Du weißt auch warum. Wir haben bereits darüber geredet - und ich sagte, die Akademie kommt nicht in Frage.“
„So viele gehen da hin. Man wäre nur für zwei Jahre dienstverpflichtet, sie bezahlen einem danach das Studium und garantieren einem sogar einen Platz ohne Wartezeit. Allein aus meiner Klasse wollen die Hälfte...“
„Dann sind es Idioten“, unterbrach er kompromisslos. Sicherlich begann das Imperium damit zu locken und besserte seine Bedingungen auf, um das Militär attraktiver zu machen. Nicht aus Freundlichkeit, sondern allein aus dem Grund, dass es mehr entbehrliches Material brauchte. Viel mehr. Und wenn man erst im Apparat war, ließen sie einen ohnehin nicht mehr gehen. Erst kamen schöne Versprechen, dann die Daumenschrauben. Aber bald schon würden Akademie, Jugendgruppen, KOMENOR, dieser ganze Sumpf nichts mehr wert sein – sondern im Gegenteil, es würde irgendwann die Zeit beginnen, in der man versuchte, diese Verbindungen zu vertuschen und als nie gegeben darzustellen. Man war gezwungen worden. Eigentlich wollte man ja nie, aber man musste eben. Lachhaft. Je weniger Verbindungen man zu diesem komatösen Staat hatte, desto besser mochte es sein. Vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht nächsten Monat. Aber bald. Und wenn Pestage erst am Galgen hing, spätestens dann würde auch er das begriffen haben. Und ganz gleich, wie lang dieser Krieg nun noch gehen würde, er war es nicht wert, dass seine Tochter dafür jetzt aus stupidem jugendlichem Eifer und einer verständlichen Abenteuersuche den Kopf dafür hinhielt. Sie konnte nicht einmal etwas dafür. Cassio wusste, wie das Imperium in der Schule bereits begann, Kinder zu formen und zu guten Pappkameraden zu erziehen. Aber nein, nicht für Pestage. Und für Terroristen ebenso wenig. Cassio würde nicht akzeptieren, dass sie eine Zahl im Statistikbericht von Kallice wurde. War das heuchlerisch? Ja, sicher. Es war ihm aber gleichgültig. Sollte man ihn doch für einen Heuchler halten, was kümmerte es ihn. Anderes kümmerte ihn. Cassio atmete ein Mal durch. Natürlich konnte er es nicht verhindern. Wenn sie wollte, würde sie gehen. Sie war erwachsen – noch nicht lang, aber sie war es. Wieder blickte er hinüber. Und in ihrem Blick erkannte er unschwer, dass sie sich noch immer wie ein Kind behandelt fühlte. Was, wie er feststellte, auch stimmte. Er schloss die Augen und seufzte laut, seine Schultern sackten ein kleines Stück ab, gaben einen Moment lang den Blick auf den Nichtsoldaten frei, auf Cassio und nicht auf Vizeadmiral Acchetia.
„Mach es einfach nicht“, sagte seine leise Stimme dann. Es war kein Befehl, keine Anordnung, keine Weisung. Eine Bitte? Unausgesprochen vielleicht, aber dennoch war es eine. Erstaunlich genug, dass er noch wusste, was das war. Es gab keine Bitten im Militär. Offenbar verlernte man sie aber nicht, wenn es nötig war.
„Vertrau mir, Kleines. Was auch immer du da suchen willst, du wirst es nicht finden.“
Die Stirn seiner Tochter legte sich in Falten. Ja, mit ein Mal sah sie auch weitaus älter aus – und natürlich wie immer genau wie ihre Mutter. Cassio blickte wieder weg, ebenfalls wie immer. Vertrauen war schwierig, wenn es wenig Grund dafür gab. Doch wenn es jemand einschätzen konnte, war es dann nicht er? Wusste er denn nicht weitaus besser als Propagandaplakate und geschönte Karrieretage, was das Ganze tatsächlich bedeutete und mit sich brachte? Er konnte nur hoffen, dass die Worte irgendwo durchdrangen. Mehr war nicht möglich. Kaum jemand, der rational dachte, wollte zum Militär – es war einfach keine Wahl, die man mit wirklicher Freude annahm, wenn man sie traf. Rationalität nützte also nichts, es ging nur um Gefühle. Und vielleicht half das wenigstens. Am Ende konnte nur sie es entscheiden. Mit einem Kind war es einfacher. Cassio nahm aus seiner Jackentasche eine seiner Cigarras hervor, die er sich unversehens anzündete. Er klemmte sie zwischen seinen linken Zeige- und Mittelfinger, betrachtete den Dampf einen Moment lang, dann blickte er wieder zu Chalya.
„Seit wann rauchst du denn?“, fragte sie und die nachdenklichen Falten auf ihrer Stirn verschwanden in purer Irritation. Er unterdrückte ein Schmunzeln, sah schulterzuckend auf die Cigarra in seiner Hand und streckte sie seiner Tochter mit einem Nicken hin.
„Zu lange schon.“
Chalya sah den dicken Glimmstängel überrascht an, nahm ihn dann mit einer gezackten Augenbraue skeptisch entgegen.
„Und seit wann lässt du mich rauchen?“
„Seit jetzt“, brummte Cassio und zündete sich eine weitere Cigarra für sich selbst an.
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