#22
Ja, eine andere Zeit. Das war es wohl gewesen. Ein Leben, das mit dem jetzigen so wenig zu tun zu haben schien. Erinnerung an, ja, bessere Zeiten. Als die Dinge koordinierter und geregelter schienen. Eine Galaxis voller Wunder, voller Chancen. Aufbruchsstimmung. All diese Gedankenfetzen früherer Jahre, an die Akademie. Anaxes. Rückblickend war es wohl nun an der Zeit einzugestehen, dass diese eigentlich von Cassio selbst verbotenen Erinnerungen daran nun die besten und glücklichsten Jahre seines Lebens bleiben würden und jetzt nicht mehr viel kommen sollte. Das war allerdings weitaus weniger erschütternd als vielleicht zu vermuten wäre, aber letztlich hatte er wohl ohnehin immer irgendwie gewusst, dass sich eine Zeit wie mit Lyn nicht wiederholen lassen konnte. Insbesondere wenn die Rahmenumstände im Laufe der Jahre auch immer finsterer geworden waren. Das Leben innerhalb des Imperiums war – allein auf den Staat reduziert – an sich nichts, was man als schön hätte ansehen können, aber nach dem Trauma der Klonkriege natürlich die logische und effizienteste Möglichkeit gewesen, die Galaxis wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Lange Zeit hatte man in ihm ordentlich leben können, bis sich der Staat immer weiter radikalisiert hatte, um den zunehmenden Stimmen der Vergangenheit wieder Einhalt zu gebieten. Nie wieder eine schwache Republik, nie wieder ein galaktischer Krieg. Es war das Versprechen des Imperiums an alle gewesen, das Versprechen, für das man seine Freiheiten auf dem Altar geopfert hatte, um zumindest einen normalen Alltag in der Galaxis zu haben. Das Versprechen war aber nicht eingehalten worden, wieder ein galaktischer Krieg, wieder eine Republik. Die Stimme derer, die die Einschränkungen nicht mehr akzeptieren wollten und die Vergangenheit und den Grund für all dies nicht mehr begreifen wollten, weil er schon Jahrzehnte zurücklag, wurde lauter auf allen Welten. Jetzt hatten sie ihren Krieg und starben zu Millionen. Diese Torheit. Alles in allem waren die letzten Jahre also nur verschwendete Lebenszeit gewesen.

Eine erneut geänderte Perspektive schien Cassio zweifelhaft. Seine Position mochte sich ändern, aber er vermutete nicht, dass das seinen Blick auf die Dinge wirklich maßgeblich verändern würde. Das konnte eigentlich nur passieren, wenn er diesen neuen Blick zu interpretieren wusste – oder ihn überhaupt interpretieren wollte. Tatsächlich fühlte er dahingehend aber weder Ambition noch sonst irgendein beschreibbares Gefühl, sondern da fand sich nur eine Leere. Cassio war diese neue Position völlig gleichgültig. Es wurde nichts mehr von ihm erwartet und ebenso wenig erwartete er davon. Ihm blieb wenig übrig als das alles so hinzunehmen und die Dinge ihren Weg gehen zu lassen. Ehe er seinen Befehl erhalten würde, würde er ein paar Tage Urlaub nehmen – zum ersten Mal seit über fünf Jahren – und ein letztes Mal nach Anaxes zurückkehren. Pflichterfüllung hatte sich als nutzlose Eigenschaft herausgestellt, die von einen Moment auf den anderen plötzlich keine Rolle mehr gespielt hatte. Es war dieses immer beißendere Gefühl, dass das Imperium, nein, dass die Politik einfach enorm undankbar war. Und so würde er nun einmal das tun, was notwendig war, aber eben auch nicht mehr. Ein paar seiner endlosen Überstunden konnte er dafür opfern, vielleicht ein kleiner, wertloser moralischer Sieg. Es war Zeit für den Besuch, den er viel zu lange aufgeschoben hatte und sicherlich auch aufschieben wollte. Der Planet bedeutete unangenehme Erinnerungen, seine Tochter hatte das auf ihre Art sicherlich irgendwie immer verstanden. Dennoch war es eben schwierig. Und viele Menschen neigten dazu, schwierigen Dingen aus dem Weg zu gehen, wenn es möglich war. Er offenbar in mancher Hinsicht auch.

Zen sprang also nicht auf seine als Bemerkung getarnte Frage an. Vielleicht war ihr sein Wink entgangen oder sie hatte ihn schlichtweg ignoriert. Natürlich spielte nicht nur er seine Rolle, sondern sie genauso. Doch war Cassio sich noch unsicher, was davon sie spielte und was hier an ihrem Verhalten Realität war. Soweit er sich daran erinnerte, hatte Zens Akte keine Auffälligkeiten oder Vermerke von Loyalitätsoffizieren des ISB enthalten, die auf irgendeine Abweichung hätten schließen lassen. Eine solche Unterhaltung wie jetzt hätte aber sicherlich zu einem solchen Vermerk geführt. Behutsam tastete man sich im Dunkeln vor und näherte sich Schritt für Schritt der Wahrheit an. Wäre sie eine angesetzte Agentin, hätte seine Unterstellung, sie spiele auch eine Rolle und das im Zweifel nicht besonders gut, vermutlich irgendeine kurzfristige Reaktion, bewusst, unbewusst, hervorgerufen. Nur wenige Menschen waren tatsächlich in der Lage, Überraschung so vollständig zu verbergen, dass sie sich in keinerlei körperlicher Reaktion äußerte. Entweder war Zen also ein solches Exemplar oder sie hatte in Bezug darauf schlichtweg gerade nichts zu verbergen. Somit hatte sie in gewisser Form doch eine Antwort gegeben, wenn auch keine eindeutige. Cassio wandte seinen Blick von ihr ab und richtete ihn zurück auf die endlose Spielwiese aus Wolkenkratzern. Und dann war sie da schon, diese Frage. Für jeden anderen wäre allein schon diese Fragestellung eine absolut unverschämte Beleidigung gewesen. Es war Teil einer jeden Offiziersausbildung an der Akademie und allein die Suggestion, dass man sich dieser Befähigung nicht sicher sein konnte, war daher für sich genommen schlichtweg dreist. Dennoch schien Cassio darauf nicht sichtlich zu reagieren. Ja, er kannte das. Häufig genug waren Frontoffiziere mit hochrotem Kopf in sein Büro gestürmt und hatten ihm vorgeworfen, von eben genau diesen Dingen selbst doch keinerlei Ahnung zu haben. Irgendwann gewöhnte man sich daran. Und aus einer bestimmten Perspektive heraus schien die Frage auch ihre Berechtigung zu haben. Er war seit vielen Jahren auf keiner Brücke eines Kriegsschiffes mehr gewesen. Wozu auch. Das änderte aber nichts daran, dass er in seinem Leben bereits Kommandos geführt hatte und natürlich technisch gesehen dazu in der Lage war. Insoweit war Zens formulierte Frage an sich ohnehin klar mit einem Ja zu beantworten. Es sagte aber nichts darüber aus, wie gut er darin war. Und die Frage, ob er das war oder nicht, schien ohnehin überflüssig, weil es zum Teil eben auch Übungs- und Erfahrungssache war, was er beides denklogisch nicht haben konnte. Vermutlich konnte sie sich ihre Frage daher problemlos selbst beantworten. Das Einzige, was ihr wohl nicht bewusst war, dass es Cassio auch relativ gleich war, wie er sich dabei schlug. Er zuckte daher zunächst nur die Schultern und gab ein kaum definierbares Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Seufzen und Brummen lag. Das mochte als Antwort genügen. Es war auch einfach nicht die relevante Frage. Er hatte die Bewegung ihres Kopfs aus seinem Augenwinkel registriert, erwiderte ihren Blick jedoch nicht, nein, fast wich er ihm sogar aus, vielleicht weil er diesen Moment, in dem ihr die Dinge klar wurden, auch nicht in ihren Augen sehen wollte.
„Ach, Zen“, sagte er nach einer Weile und nach einem ausgiebigen Ausatmen dann mit fast bitterer Stimme, halblaut, vermied dabei aber einen belehrenden oder arroganten Unterton, der ansonsten angedeutet hätte, dass er seine Gegenüber als naiv empfand. Das war sie sicherlich nicht, sie hatte letztlich nur keine Ahnung, was bevorstand. Woher auch, schließlich wusste sie den entscheidenden Punkt voraussichtlich noch gar nicht. Vermutlich war es daher nur gerecht, ihr auch den Rest der Informationen zukommen zu lassen.
„Ich werde Ihnen nicht unterstellt, damit wir bei Ihnen in Bright Jewel gemeinsam Piraten jagen“, fuhr er schließlich fort, sicherlich auch ein Stück weit von der eigentlichen Frage ausweichend, ehe er noch einmal kurz stoppte. Cassio war nicht dafür bekannt, komplizierte Reden zu schwingen oder lange nach Worten zu suchen, um einen Umstand blumig zu umschreiben. Dennoch war da dieser eine Moment des Zögerns, wie er kam, bevor man etwas Unangenehmes aussprach.
„Poltergeist wird die neue Frontsicherung bei Grunger.“
Bei einem Mann, der vor wenigen Monaten noch den Sturz der imperialen Regierung forderte. Von dem der Geheimdienst folgerte, dass er bald schon aus finanziellen Erwägungen her in imperiales Gebiet vordringen musste, um neue Einnahmequellen zu erschließen. Einem Mann mit einem Executor-Schlachtschiff und einer exzellent trainierten Armada aus Sternenzerstörern. „Frontsicherung“ bedeutete in solchen Fällen nur, die volle Wucht des ersten Angriffes abzubekommen und genug Zeit zum Sammeln der rückwärtigen Kräfte zu verschaffen, damit diese sich formieren konnten, um auf die neue Bedrohungslage adäquat zu reagieren. Die Frontsicherung war entbehrlich, waren die ersten, die starben, wenn ein Angriff von außen stattfand. Es war letztlich einkalkuliert und notwendig, bevor der Gegenschlag effektiv geführt werden konnte. Kanonenfutter. Poltergeist galt nicht als schlechte Einheit, aber einem konzentrierten Angriff von Grunger hatten sie nichts entgegenzusetzen. Gar nichts. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass Grunger seine Aggressor allein voraussandte, würde diese kurzen Prozess mit ihnen machen, ganz gleich wie gut oder schlecht sie ihre Schiffe kommandierten. Dafür war das Kräftegleichgewicht einfach zu unausgewogen. Und ein Angriff Grungers war letztlich keine Frage mehr des Ob, sondern lediglich des Wann.

Alles in allem ging es hier offenbar nicht einmal nur um Cassio. Das war in dieser Situation ein Gedanke, den der Vizeadmiral sich bisher noch nicht gemacht hatte, vermutlich weil er bislang einfach zu sehr mit sich selbst und seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, um den ihm ansonsten recht eigenen Überblick über das große Ganze zu gewähren. Aber hier neben Daro Zen schien die Sachlage plötzlich deutlich klarer zu sein. Pestage statuierte nicht nur ein Exempel, sondern letztlich waren es zwei. Der alte Mann war immer einer derer gewesen, die den Sexismus in Teilen der imperialen Gesellschaft besonders gefördert hatte. Man sagte ihm nicht zuletzt deswegen auch eine gewisse Dualität mit Isard nach. Es ging also nicht einmal bloß um eine Demütigung seines in Ungnade gefallenen Stabschefs, wenn er ihn einer Frau, einer jüngeren Frau, unterstellte. Nein, er entledigte sich gleichzeitig eines anderen Ärgernisses, etwas, das ihm immer ein Dorn im Auge gewesen war. Wenn der Mann schon etwas für Grunger opfern musste, dann schien es nur sachgerecht, dafür auch eine Frau zu nehmen. Eine seltsame Erkenntnis, aber vermutlich eine, die auch für Zen zwar überraschend, aber eben auch nicht so überraschend anmuten würde, wenn ihr bewusst wurde, was das nicht nur für ihn, sondern eben auch für sie bedeuten sollte. Auch wenn es ihr durch Pestage vielleicht nicht gerade offen ins Gesicht gesagt wurde, sondern eben etwas mittelbarer. Eine bittere Wahrheit nach all den Jahren der Dienstzeit, dass man am Ende doch für wertlos empfunden wurde, doch eine Wahrheit, derer sie sich ebenso stellen musste wie er. Sie würde die Versetzung zur Grunger-Front auch nicht anders verstehen können als er. Man musste die einzelnen Faktoren nur kombinieren und es war eigentlich offensichtlich. Und das ließ sie im selben untergehenden Boot fernab jeden Landes sitzen, in das bereits Wasser leckte, welches selbst durch angestrengte Bemühungen aber nicht mehr über Wasser gehalten werden konnte, sondern langsam aber sicher immer voller wurde, bis irgendwann dieser unvermeidliche Moment kam. Jeder wusste, wie es letztlich enden würde, nur der Zeitpunkt war fraglich. Und alles in allem war da trotz allem immer noch dieser letzte Funken menschlicher Hoffnung, dass irgendein eigenartiges Wunder geschehen und in letzter Sekunde doch alles ändern würde. Die harte Realität war dann jedoch, dass die Galaxis voller Toter war, die ebenso an ihr Wunder geglaubt hatten und bei denen es aber ausgeblieben war. Cassio rechnete mit keinem Wunder.
„Ich schlage vor, Sie… regeln alles, ehe Sie abkommandiert werden“, meinte er dann knapp, ein bisschen vernuschelt und warf einen kurzen Blick zu ihr herüber. Flüchtig nur, gerade genug, um ihren Blick auf ihm zu realisieren und diesem dann sofort wieder auszuweichen. Übersprungshaft zog er ein letztes Mal an seiner Cigarra und schnippte den Stumpen einer einst stolzen Sache seitwärts über das Geländer, wo sie ihren langen Fall begann, bis sie irgendwann der harte Aufschlag in der Realität traf. Wie passend.
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