#42
Beinahe war der Mann Gefangener in seinen finsteren Gedanken, die ihn einkerkerten in eine eigenhändig errichtete Feste aus Schuld und Selbsthass. Das war entweder der direkte Weg in eine überfällige Läuterung – oder aber der in eine Geisteskrankheit. Es war nicht schön, Personen in solchem Zustand sehen und spüren zu müssen, aber es war wohl nur die logische Folge dieses aktuellen Systems, dem er sich offenbar innerlich verpflichtet fühlte, selbst wenn es sich diese Verpflichtung nie wirklich verdient hatte. Im Moment war es beinahe gleichgültig, was sie sagte – er war so zugemauert in seiner düsteren Festung, dass er ihre Worte vermutlich nur durch einen depressiven Schleier wahrnahm. Dennoch war es schwer, ihn einfach hier stehen zu lassen, dieses Elend, dieses Wrack eines vermutlich ehemals stolzen und vielleicht einmal sympathischen Menschen. Frustration konnte auch paralysieren und mochte daran hindern, diesen einen Gedanken zu denken, der sich unterschwellig längst im Gehirn des Mannes festgesetzt hatte. Und so sehr sie auch mit dem Finger darauf zeigte, dass es ein Problem gab, so sehr musste er selbst das alles erkennen, selbst zu dieser Überzeugung und diesen Gedanken reifen und nicht bloß halbherzig aufgrund einer Moralpredigt.

Sie wendete ihren Blick ab und schüttelte gut sichtbar ihren Kopf über die ihr gegebenen Antworten. Ja, sie hatte ihn aufgefordert, über sein Trauma zu sprechen – nicht zwangsläufig mit ihr und auch nicht jetzt. Aber er ergoss sich nur in allgemeiner Verbitterung, in einem destruktiven Weltschmerz, der in keiner Weise eine Erkenntnis geschweige denn eine Lösung für ihn oder für andere bringen würde, sondern immer weiter in diesen verheerenden Strudel aus Selbsthass und Geißelung treiben würde. Er war das Kind in einer klein scheinenden Welt, in die es sich zurückzog, und jede Störung von außen führte zu Resignation und Rückzug. Sedrael blickte kurz das Glas in ihrer Linken an, dann stellte sie es mit einem derartigen Knall auf dem Tresen ab, dass es beinahe ein Wunder war, dass es dabei nicht zu Bruch ging.
„Reißen Sie sich zusammen“, entgegnete sie zum ersten Mal ungewöhnlich scharf, fast als wäre sie der Selbstbemitleidung des Mannes kurzerhand überdrüssig geworden. Meinte er, er war der einzige, dem solches Leid widerfuhr in dieser Welt? Viel Leid? Zu viel? Nein, aber offenbar war er bislang einfach nie in diesem Maß damit konfrontiert gewesen und nun unfähig, damit fertig zu werden. Andere Schicksale waren mindestens vergleichbar schlimm und anstelle nur festzuhalten, in welch schwierigen Situationen sie waren, versuchten andere Leute jedoch, den Fehler zu erkennen, die Lage schließlich zu analysieren und im Anschluss auch etwas dagegen zu unternehmen. Ja, seine Situation war schwierig und er mochte viel erlebt haben, doch das Wehklagen allein würde ihm darin schlichtweg nicht helfen können. Es gibt keine Gefühle, nur Frieden. Die erste und vielleicht wichtigste Errungenschaft des Jedi-Daseins, die Außenstehende häufig dahingehend fehlinterpretiert hatten, indem sie die Aussage vollständig wörtlich nahmen und dadurch zu verstehen glaubten, dass ein Ideal der Jedi in völliger Gefühllosigkeit bestand. Kaum etwas schien ferner der Wahrheit, tatsächlich ein leicht erklärbarer Irrtum, sofern andere an der Ausräumung von Irrtümern jedoch überhaupt interessiert waren. Andere lasen nur die bloßen Buchstaben, ohne sie auf sich wirken zu lassen. Doch es ging lediglich darum, sich von Gefühlen nicht übermannen zu lassen, sie – wenn schon nicht beherrschbar – doch wenigstens kontrollieren zu können. Mäßigung und Kontrolle über den eigenen Körper, einen Zustand der inneren Ruhe und Ausgewogenheit zu erlangen – eben Frieden, Seelenfrieden. Etwas, von dem ein Mann wie Tiberius Vaash innerlich wie äußerlich kaum weiter entfernt erscheinen konnte. Die Herrschaft der Emotion über die Sozialisation war immer Verursacher von Leid, solches, das viele Täter später sogar massiv reute, wenn sie im Affekt etwas taten, wozu sie ansonsten nie in der Lage gewesen wären. Kleinigkeiten zumeist, aber auch weitaus dramatischere Dinge. Der Mensch hier vor ihr reute, verstand aber die Ursache und die Konsequenz nicht.
„Sie glauben, Ihre Situation ist besonders schlimm? Wachen Sie auf, Tiberius. Die Galaxis ist schon lange in diesem Strudel aus Gewalt und Hass, der noch viel schlimmere Schicksale hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringen kann und wird. Jedes Wesen muss das Gute und das Schlechte gleichermaßen überstehen und seine Schlüsse daraus ziehen. Wer darüber nicht nachdenkt, wird keine Gnade erhalten, durch wen… oder durch was auch immer. Der, welcher sich nur zurücklehnt und das Schlimme in der Galaxis über sich ergehen lässt, wird immer dessen Opfer bleiben – und somit auch nie Gnade erhalten. Gnade, mein Freund, Gnade muss verdient werden.“
Und ja, vielleicht war gerade das auch ihr Problem gewesen. Oder jedenfalls eines von mehreren. Natürlich hatte sie versucht, an den Symptomen zu arbeiten, indem sie nach Firrerre gegangen war. Aber sie hatte nie das große Ganze im Blick gehabt, auch weil sie sich niemals dazu berufen gefühlt hatte. Sedrael war nie eine große Jedi gewesen und wäre im Orden auch nie eine geworden. In dieser Zeit war es aber weniger eine Frage der Berufung, sondern vielmehr Teil des natürlichen Überlebensinstinktes für den, der nicht zwangsläufig in den Abgrund des Strudels gerissen werden wollte. Was das nun für die Sephi ganz persönlich bedeutete, wusste sie selbst nicht. Noch nicht. Oder vielleicht würde sie es auch nie ganz verstehen. Aber die Macht hatte ihr eindeutig, auf grausame Weise aufgezeigt, dass ihr Weg auf Firrerre ein irrlichternder gewesen war. Sofern sich ein Ereignis wie dieses überhaupt auf so eine kleine, auf ihre eigene Person bezogene Betrachtungsweise reduzieren ließ. Ein kurzes Schaudern überkam sie. Nur ein Hauch davon, entfernt und doch irgendwie ganz nahe.

Sedrael trat erneut an den Tisch heran und legte dem alten Menschen eine Hand auf die Schulter, eine vergleichsweise persönliche Geste dafür, dass sie den Mann kaum kannte, vielleicht auch um zu demonstrieren, dass ihre Schelte von gerade ihn zwar aufrütteln, aber nicht beleidigen sollte.
„Denken Sie darüber nach, Tiberius, aber verlieren Sie sich nicht in Ihrer Frustration.“
Langsam hob die Sephi ihren Blick auf ihr Tablett an, das immer noch unbenutzt an der Theke stand, doch ihr war der Appetit vergangen, das mulmige Gefühl in ihrem Magen ignorierend. Erst als einen ein paar Momente später die ihr nur zu vertraute Stimme wie eine Schwertklinge durch den Raum schnitt, wurde der Jedi bewusster, dass ihre Sinne unterschwellig etwas aufgenommen hatten, das sie vielleicht hätte klarer bemerken müssen. Sie hob sich aus ihrer leicht nach vorne gebeugten Position und musterte die Hexe einen Augenblick lang. War etwas anders? Schwerlich. Ein Teil von Sedrael rechnete immer noch damit, dass die Frau sich ihrer irgendwann einfach entledigen würde, so sie sich dazu bemüßigt sah und ihres Spielzeugs überdrüssig wurde. Vielleicht ein ähnlich großer Teil wie der in Reah Nigidus, der genau das beabsichtigte. Der Mensch stotterte eine Antwort auf das an seinen Hals gehaltene Rasiermesser einer Frage heraus, die der Jedi ähnlich seltsam wie die dazu gestellte Frage vorkam. Natürlich gab es subjektive Formen von Gut und Böse, sie waren aber nur anhand eines vagen allgemeinen Konsenses annähernd zu bestimmen und jedenfalls nicht trennscharf objektivierbar. Zweifellos würde ihre Bewertung und die der Inquisitorin in diesem Punkt unterschiedlich ausfallen – es änderte jedoch nichts daran, dass jede einzelne Person ihren ganz eigenen Wertekanon besaß und Dinge in Gut und Böse einteilte. Eine völlig andere Frage war dagegen, nach welchen Maßstäben in welcher Situation zu handeln war und ob das eine Mittel dem anderen stets vorzuziehen geschweige denn das eine ohne das andere überhaupt denklogisch existieren konnte und es daher vielleicht wenig Sinn machte, das eine gegen das andere auszuspielen – was die ursprüngliche Intention der Befragung gewesen sein mochte. Sedrael entschloss sich jedoch, selbst nicht darauf zu reagieren, nicht zuletzt weil sie ein vergleichbares Thema bereits vor kurzem zusammen besprochen hatten und die Frage auch nicht an sie gerichtet war. Stattdessen zog sie es vor, den alten Menschen aus seiner bemitleidenswerten Situation der Rechenschaft vor den präzisen Klauen Reahs zu erlösen.
„Ist es Zeit zu gehen?“, fragte sie also schließlich die Inquisitorin direkt, ein paar Sekunden bereits nach der Antwort des Bärtigen. Natürlich wusste sie nicht, wohin es genau gehen würde, aber das inhaltliche Ziel war ihr seit dem Gespräch im Hangar nunmehr bekannt – auch wenn ihr noch nicht klar war, was die Hexe mit dem Ziel anzustellen gedachte, sobald sie es fand. Vorsicht war im Anblick alter Erzählungen angebracht, obwohl nicht wenige glaubten, dass die Katana-Flotte ohnehin nur ein Mythos war, ein Hirngespinst der Raumfahrer und Piraten, die schon seit endlosen Generationen von geheimnisvollen Schätzen und berüchtigten Ereignissen schwärmten. In diesem Mythos jedoch steckte ein Kern der Wahrheit. Die Flotte existierte tatsächlich, nur hatte niemand bisher verorten können wo. Bis jetzt. Doch wenn sie jemand hätte finden können, dann war es wohl nur ein hochgezüchteter Apparat mit eisernem Griff über einen offenbar gewaltigen Teil der Galaxis.

Nur kurz darauf kam bereits eine weitere Person in die Offiziersmesse hinein, ein deutlich jüngerer und weniger hünenhafterer Soldat als der, der hier gerade als geistiges Wrack auf dem Stuhl saß. Nach anfänglichem Zögern trat er schließlich in den Raum hinein, gab sich offenkundige Mühe darin, die beiden anderen Personen im Raum nach Möglichkeit außer Betracht zu lassen, obwohl er beim Vorantreten einige verstohlene Blicke auf die beiden warf. Erst als er mit etwas Abstand zum Stehen kam, sprang die Militärmaschine in seinem Kopf an und die so übliche rigorose Disziplin zeigte sich. Sedrael trat weitaus weniger formalistisch in Anbetracht ihrer weiß-schwarzen Uniform einfach nur ein Stück zur Seite, schob sich damit von dem alten Mann weg, um sich an die Seite der Inquisitorin zu stellen, beinahe als sei sie eine Schutzsuchende vor einer aufziehenden Gefahr oder ein Jungtier, das sich zu weit aus dem sicheren Hort des Muttertiers entfernt und zu weit in die Wildnis fortgewagt hatte, nun aber seinen Fehler erkannte und sogleich rasch in vermeintlich sicherere Gefilde zurückkehrte. So gab sie dem Neuankömmling ihren Platz vor dem alten Offizier frei, dessen Anwesenheit offenbar die Ursache für die Ankunft des Jüngeren zu sein schien. Die Sephi schob ihre Pupillen in Richtung ihres Augenwinkels, ein im Vergleich durchaus weniger verstohlener Blick auf die Hexe an ihrer Seite, andeutend, dass sie begann, sich unwohl zu fühlen, aber auch, um die Reaktion der Frau abzuschätzen und eine Antwort auf ihre vormals gestellte Frage einzufordern.
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