#2
Es gab solche Fälle, deren Tragweite man bereits in dem Moment erkannte, in dem man Kenntnis darüber erlangt hatte. Solche Fälle waren es, die den Reiz des Berufes ausmachten. Wenn andere mit dem Feuer spielten oder zumindest ein solcher Verdacht im Raum stand. Und wenn man dann dank seiner Quellenlage und der Analyse verschiedener Faktoren zu einem Erkenntnisgewinn kam. Oder zu einer hohen Wahrscheinlichkeit.

Es war äußerst praktisch, dass auf allen größeren Schiffen des Imperiums Agenten des Geheimdienstes Dienst verrichteten – die meisten tatsächlich sogar offen als solche auf dem Schiff bekannt und als Bürokraten sortiert, andere dagegen unerkanntermaßen eingeschleust. Im geordneten Bürokratensystem des Imperiums waren die regelmäßig berichtenden, bekannten Agenten indes schon häufig genug ausreichend, um interessante Erkenntnisse zu erlangen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, ob nun mit Kooperation des ISB oder auf eigene Initiative. Das Herauskommunizieren der Agenten zurück ins Hauptquartier im Zentrum barg zwar die theoretische Gefahr, dass der Nachrichtenverkehr von einer feindlichen Gruppierung abgefangen wurde. Doch die imperiale Verschlüsselung innerhalb der Kommuniqués des IGD hatten zurecht einen exzellenten Ruf und galt als so ausgezeichnet, dass – selbst wenn ein solches einmal vom Feind aufgeschnappt werden würde – die Zeit der Decodierung so lange dauern würde, dass Information längst an Aktualität und somit an Relevanz verloren hatte. Ysanne Isard bestand außerdem darauf, dass der Codeschlüssel in regelmäßigen Abständen nach dem Zufallsschema geändert wurde, so dass selbst ein kurzfristiges, ohnehin kaum denkbares Knacken des Schlüssels der Vergangenheit für Nachrichten der Zukunft nutzlos sein würde. Eine solche regelmäßige Änderung war teuer und zeitaufwendig, aber Geld war für den Geheimdienst in den letzten Jahren ohnehin selten ein relevantes Thema gewesen und Zeit war in der Sicherheit im Übrigen am besten angelegt. Zumal es nicht Isards Zeit war, die damit verschlungen wurde.

Sie befasste sich mit Interessanterem. Zum Beispiel mit dem aktuellsten Scandoc, das sie in der rechten Hand hielt, während ihre linke lässig an ihrer Hüfte lag. Eine interessante Begebenheit, die aus dem Imperialen Sicherheitsbüro an die Inquisition übertragen und somit schließlich ihrer Zuständigkeit unterstellt wurde. Im Normalfall wäre ein solcher Fall schon mittelmäßig interessant, aber dieser hier hatte etwas Besonderes. Kurz überflog sie noch einmal den Inhalt des Scandocs.

Zitat:Empfänger: IGD, Analysebüro
Absender: ISB, Untersuchungssektion
Bearbeiter: Rayon Srish, Leitender Auswerter, Dienstnummer: ISB-490-128-161
Vorgangsnummer: 712161024
Inhalt: Potentiell subversives Subjekt erfasst und als MCh-Verdachtsfall in die Datenbank aufgenommen. Nach Rastersuche keine Übereinstimmung, daher Anlegung folgenden Aktenzeichens für das Subjekt: F-ISB MCh 39/24.

Routinemäßig wird der vorliegende Fall als MCh-Verdachtsfall an die Sektion I des Imperialen Geheimdienstes verwiesen. Die Akte wird nach Chiffrierung intern übertragen. Die obligatorische Weiterleitung an das Ubiqtorat zur weiteren Kenntnisnahme ist erfolgt. Für den Fall der Bestätigung des Verdachtsfalls wird eine Aktenkooperation seitens des ISB angefordert.
(Aktenvermerk: Kooperationsersuchen aus Staatsschutzgründen abgelehnt, D-IGD Y. Isard)

Folgendes Subjekt wurde neu erfasst und als MCh-Verdachtsfall eingestuft:

Name: unbekannt
Spezies: unbekannt, Sephi-Einschlag vermutet
Alter: unbekannt, derzeit geschätzt auf 19 Menschenjahre
Größe: zwischen 165cm und 175cm

Merkmale:
- Helle, farblose Haut
- Weißes Haar mit schwarzen Akzenten
- Spitze Ohren
- Unbekannte Markierungen an Wangen

Kommentare:
- Subjekt wurde über Planet Atrisia erstmals erfasst (Reisz, Garl; DN: IS-352-901-6562). [Anl. 1]
- Subjekt ist als MCh-aktiv anzusehen. [Anl. 2]
- Subjekt trägt Verdachtskleidung. [Anl. 3]
- Subjekt befindet sich in imperialem Gewahrsam an Bord der Feuerschwinge. [Anl. 4] Stellungnahme des KO Donnovan, Rupert zum Aufgreifen des Subjekts wurde bereits seitens des ISB angefordert und wird bei Erhalt in Kopie weitergeleitet.
- Subjekt wurde vormals über Planet Firrerre aufgegriffen und an Bord der Abaddon gebracht. [Anl. 5] Stellungnahme des KO Stratis, Roman zum Aufgreifen des Subjekts wurde bereits seitens des ISB angefordert und wird bei Erhalt in Kopie weitergeleitet.
- Weitere medizinische Auswertung ausstehend. Erfassung zusätzlicher Daten innerhalb der nächsten 24 Stunden.

Anlagen zur Akte:
- 1: Hinweisschreiben Reisz, Garl
- 2: Erstes medizinisches Gutachten Reisz, Garl
- 3: Photo, aufgenommen über Atrisia, Feuerschwinge
- 4: Daten Flugschreiber, Logbuch Feuerschwinge
- 5: Daten Flugschreiber, Logbuch Abaddon

Eigentlich war das zunächst nur ein Standardfall, nach dem Aktenzeichen zu urteilen bereits der neununddreißigste MCh-Fall dieses Jahres. Die meisten erwiesenen MCh-Fälle stellten sich am Ende indes als unbedenklich heraus. Es gab sogar vereinzelte MCh-Fälle, die bis heute im imperialen Militär dienten. Natürlich unter entsprechender Beobachtung. Doch gab es ein paar Punkte, die hier an diesem konkreten Fall nun einmal besonders interessant waren. Dabei ging es Isard aber weniger um das betrachtete Subjekt. Es ging vielmehr um die Begleitumstände. Es ging darum, wie, wann und in wessen Wirkungskreis dieses Subjekt aufgenommen wurde. Der Grund, warum sich Ysanne Isard persönlich mit diesem Bericht befasste, war einfach. Die Feuerschwinge, ein kleiner, unscheinbarer Modular-Klasse Kreuzer, war nur in einer einzigen Hinsicht bemerkenswert: Sie war Teil einer kleinen Einsatzgruppe, die zur besonderen Verwendung – z.b.V., wie es im Schriftverkehr hieß – dem Imperialen Geheimdienst unterstellt war. Genauer gesagt, der Inquisition. Genauer gesagt, Inquisitorin Reah Nigidus. Nun waren Inquisitoren einerseits nützlich, andererseits aber eine der wenige Unwägbarkeiten, die Ysanne Isard in ihrem Dienst zu dulden hatte. Machtbegabte oder – wie ihre Behörde es nannte – „MCh-Fälle“ waren schlichtweg schwerer zu kontrollieren als einfache Agenten. Und sie hatten die Tendenz, ihre Aufgabeneröffnung… nun… weit auszulegen und sich dem geregelten bürokratischen Rhythmus zu entziehen. Isard hasste diesen als Peson zwar mindestens genauso, doch sie kam nicht umhin zuzugeben, dass er die Systematik ihres Tuns enorm vereinfachte. Überwachungsstaaten hatten ihre Vorteile. Sofern sich alle daran hielten. In Bezug auf die normalen Soldaten war das im Prinzip immer gegeben. Inquisitoren dagegen verabschiedeten sich häufig aus diesem System.

Und so war es für Isard letztlich wohl wenig überraschend, dass die Erkenntnis über den vorliegenden MCh-Fall nicht von der zuständigen Inquisitorin an die Inquisition berichtet worden war – sondern von einem kleinen, unwichtigen Arzt an Bord eines kleinen, unwichtigen Schiffes, von denen sie ansonsten nicht gehört hatte und auch nie gehört hätte, der das Subjekt als einfache Dienstpflicht an das ISB zu melden hatte. An sich war das Versäumnis der Inquisitorin daher weniger dramatisch, da Militärärzte via Verordnung, die noch unter Palpatine erlassen worden war, dazu verpflichtet waren, MCh-Fälle nach einer Untersuchung umgehend unabhängig zu melden. Selbst wenn die Ärzte im Zweifel gar nicht wussten, was sie da meldeten. Und was ein MCh-Fall überhaupt war. Doch jeder, der das unterließ, stand bereits nah an der Grenze zum Hochverrat, daher funktionierte dieser Mechanismus vergleichsweise gut. Üblicherweise wurden derartige Erkenntnisse zwar in der Musterung vor der Akademie erfasst und von den Ärzten entsprechend an die Inquisition selbst weitergeleitet, in diesem Fall handelte es sich jedoch gerade nicht um einen Militärangehörigen. Es war eine Zivilistin, die – wie den Schiffsdaten zu entnehmen war – über dem Planeten Firrerre vom Flaggschiff der Einsatzgruppe auf die Feuerschwinge überstellt worden war. Überflüssig war hierbei, sich daran zu erinnern, dass das Flaggschiff Abaddon gleichzeitig das Kommandoschiff von Inquisitorin Nigidus war. Das deckte sich natürlich mit dem Logbuch der Abaddon, demzufolge die Inquisitorin vor kurzem mit einer Gefangenen von Firrerre an Bord gekommen war. Kurz vor dem Hyperraumsprung des Kommandoschiffs wurde die Gefangene aber mit einer Fähre auf die Feuerschwinge überstellt. Isard lächelte. Und hier begann es nun interessant zu werden. Kurz nach der Überstellung der Gefangenen sprang das Kommandoschiff in den Hyperraum, mit Ziel Fondor. Dem Ort also, an dem der Imperator sich derzeit aufhielt. Das konnte Mehreres bedeuten.

Isard trug die Fakten zusammen. Eine Inquisitorin, die einen MCh-Fall aufgespürt hatte, diesen aber nicht meldete. Eine Inquisitorin, die kurz darauf zu Vesperum bestellt wurde. Eine Inquisitorin, die dafür Sorge trug, dass besagter MCh-Fall nicht auf ihrem Schiff war, als es sich auf den Weg zum Imperator machte, sondern auf einem, das nicht zum Treffen mit dem Imperator flog. Und eine Inquisitorin, die das Schiff, an Bord dessen der MCh-Fall war, in nicht unter imperialer Kontrolle stehendes Gebiet entsandte. Ende der Faktenlage, Beginn der Analyse. In Isards Einschätzung gab es für die Erschließung dieser Fakten nur zwei Möglichkeiten. Vesperum wusste selbst ohnehin schon von diesem Fall, wurde über die Gefangennahme in Kenntnis gesetzt und wollte nun mit Reah Nigidus das weitere Vorgehen besprechen. Das schien indes unwahrscheinlich, schließlich hatte er nur Nigidus offenbar ohne das Subjekt zu sich rufen lassen, da die Erfassung auf der Feuerschwinge zeitlich nach dem Sprung des Kommandoschiffs erfolgt war. Es ergab also auch wenig Sinn, ein persönliches Erscheinen der Inquisitorin anzuordnen, wenn diese gerade einen gesuchten MCh-Fall gefunden hatte und diesen Fall somit direkt von der Inquisitorin zu trennen, zumal eine Holo-Konferenz für dieses Ziel geeigneter gewesen wäre. Die Alternative war, dass Reah Nigidus einen auch für Vesperum unbekannten Fall gefunden hatte und ein eigenes Interesse daran hatte, diesen auch unbekannt zu halten. Dafür sprach die aus objektiver Sicht die rasche Verlegung auf ein anderes Schiff sowie die gesamte sinnlose Verlegung der Feuerschwinge in das Territorium der Gemeinschaft von Atrisia, in der derzeit keinerlei imperiale Operationen stattfanden, womit die Wahrscheinlichkeit eines Aufspürens minimiert wurde. Die Wahrscheinlichkeiten der beiden Alternativen waren aus Isards Sicht somit relativ einfach verteilt.

Was war die Folge dessen? Isard hätte sich im Normalfall vielleicht an das Büro des Imperators gewandt und es über diesen Umstand in Kenntnis gesetzt, rückgefragt, ob der vorliegende MCh-Fall bekannt war oder nicht. Das hätte etwaige Unsicherheiten beseitigt und wohl dafür gesorgt, dass auf der Abaddon eine… Neuordnung in der Befehlskette ausgegeben worden wäre. Einfachere Gemüter, die Dienst nach Vorschrift machten, hätten dies vielleicht auch so getan. Hier gab es jedoch ein Problem. Das Büro des Imperators unterstand in Abwesenheit des tatsächlichen Imperators derzeit Sate Pestage. Dieser verfügte aber nach Isards Einschätzung ohnehin im Moment nicht über die Kapazitäten oder das Verständnis, notwendige Schritte einzuleiten. Nicht zuletzt deshalb setzt er alles daran, sich nun möglichst rasch zum Imperator erheben zu können. Isard lächelte erneut. Natürlich hätte sie Pestage darüber informieren können, dass Imperator Vesperum kürzlich wieder aufgetaucht war. Mehrere solcher Berichte hatte die Direktorin des Geheimdienstes in den letzten Wochen auf den Tisch bekommen, zuletzt von der Legator im Fondor-System – die sich wohl aus einer Laune des Imperators heraus neuerdings als „Tyrann“ bezeichnete. Es stand somit für Isard außer Frage, dass Vesperum sich tatsächlich dort an Bord befand. Wäre nicht gerade Sate Pestage der aktuelle Ersatz gewesen, so wäre es wohl eine Obliegenheit seitens der Geheimdienstdirektorin gewesen, den Vertreter darauf hinzuweisen und ihm dessen baldige Rückkehr anzukündigen. Das Vorpreschen Pestages zum neuen Imperator sprach schließlich eindeutig dafür, dass dieser nicht die geringste Ahnung davon hatte. Doch Isard gedachte, das auch so zu belassen. Pestage sollte sich gerne lächerlich machen, sie hatte ihn immer als traurige Gestalt empfunden, die sich ständig nur am Speichel Palpatines nährte. Er war eben das, was Isard eigentlich hasste. Bürokratie. Mehr nicht. Nichtsdestotrotz würde sie natürlich genau diese Bürokratie zu ihrem Vorteil nutzen. Sie war dienstlich nicht befugt, über die Position eines Imperators Bericht abzugeben, zumal sie unterstellen musste, dass Vesperum sich derzeit noch aus gutem Grund versteckt hielt. Es erschien politisch unklug, möglicherweise die Person zu verärgern, die bald wieder auf den Thron sitzen würde. Verschanzte sie sich dagegen hinter der Bürokratie, würde sie damit einen ihrer größten Konkurrenten bloßstellen können, der sich in Abwesenheit von Vesperum zum neuen Imperator zu machen versuchte und damit faktisch Hochverrat betrieb. Auch wenn er nichts davon ahnte. Aber das war sein Pech – nicht ihres. Pestage würde weiter an Ansehen und Status verlieren. Natürlich würde es dann nur eine logische Person aus der Sicht von Vesperum geben, die aus dessen Sicht vertrauenswürdig und kompetent genug war, diesen Freiraum anschließend besetzen zu können.

Und so würde Ysanne Isard im Moment nichts tun. Sie würde abwarten, bis Pestage bloßgestellt war, und später – auf die eine oder andere Art – herausfinden, ob Vesperum von dem MCh-Fall Kenntnis hatte oder nicht. Natürlich würde sie nämlich auch Vesperum nicht darauf hinweisen, dass möglicherweise eine Inquisitorin etwas vor ihm verbarg. Sollte sich diese Vermutung bestätigen, so könnte ein solches überlegenes Wissen zuletzt schließlich auch noch auf die eine oder andere Art nützlich werden, je nachdem, wie sich die politische Situation in den nächsten Tagen, Wochen entwickelte. Entweder insoweit hilfreich, als es gegenüber der Inquisitorin ein Druckmittel geben würde, oder aber hilfreich dabei, durch einen weiteren Verratsfall eines Machtbegabten die von Isard ohnehin nicht gemochte Abteilung der Inquisition endlich loszuwerden und diese Macht wieder zurück in kontrollierbarere Hände des Geheimdiensts zu geben. Dass Ysanne Isard in beiden Möglichkeiten gewann, war dabei zweifellos reiner Zufall. Kurz blickte sie auf die Chrono-Anzeige in ihrem Büro. Es war langsam Zeit. Dem Datenschreiber der Legat..., nein, Tyrann zufolge musste diese in den nächsten Stunden über dem Zentrum ankommen. Und sie wollte natürlich auf der Bühne stehen, wenn ihr Widersacher fiel.
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