#12
Entscheidungen. Leben bestand letztlich aus Entscheidungen. Lumi'ell versuchte Vertrauen im Moment zu finden, versuchte jenen Gedanken zu erhalten, der sie von einer Flucht abhielt. Diese unbekannte Schwester hatte ihr eigene Aura, eine Ausstrahlung, die sie zögern ließ. Noch verstand Lumi'ell nicht wirklich, was sie bewegte aber auch sie hatte bereits eine Entscheidung getroffen. Das lodernde Feuer war ein Anknüpfungspunkt, denn es stand für viel mehr, als eine bloße Wärmequelle. Es hatte sie angezogen, fast gelockt, denn eine Seele auf der Flucht, auf der Abkehr, von seiner gewohnten Welt, suchte stets eine Heimstatt, und so suchte auch die einsame und mitunter sehr deviante Nachtschwester jenen Ort, an dem sie einfach sein konnte und vielleicht ein Licht finden konnte. Gethzerion hatte ihr diesen einstigen Ort zerstört, wenn nicht für immer unmöglich gemacht, denn Lumi'ell konnte nicht jenen Kreisen und Riten folgen, die Gethzerion für sich zog. All die dunklen Stunden unter jener fremden Macht, diesem unheiligen Geist, aus der Ferne, gebunden durch Gethzerions Gesang. Lumi'ell wollte nicht mehr mit dieser Macht tanzen, sich davon verabschieden; schließlich würde diese Macht alles vereinnahmen, was sie als Schwester ausmachte. Der einsame Abschied war letztlich ihre Entscheidung gewesen. Sie nahm ihren Abschied von Gethzerion, ihren Schwestern und war geflohen. Leider folgte auf einen Abschied meistens einer neuen Abschied. Und nicht jeder Abschied bedeutete auch ein Wiedersehen. Ohne einen klaren Ort, wollte sie an etwas glauben, etwas verstehen oder etwas sehen, denn die Welt war inzwischen so verkehrt, für diese einsame Nachtschwester, die so dann von einem Feuer im Dunkeln angezogen worden war. Doch die Flucht stahl ihr Lebenskraft, machte Dinge so seltsam leer und unbeständig, so dass Lumi'ell dieser nicht ganz so fremden Nachtschwester nicht vertrauen konnte. Vertrauen musste wachsen, erwachsen aus gemeinsamer Tat, Hoffnung und Hingabe. Lumi'ell glaubte nicht daran, dass sie dies sofort finden konnte. Gethzerion hatte hier ganze Arbeit geleistet, ihr jene klare Sicht zu nehmen, so dass ihr nur der Augenblick blieb. Ohne es zu wollen, ohne es zu wünschen, folgte ihr noch immer jener dunkler Schatten.

Die Augen der Nachtschwester fanden kaum Ruhe, wollten sehen, das Licht erfassen, während ihr neuer Kontakt mit einem einem dürren verdorrten Stock ungezielt im lodernden Feuer umher stocherte. Das Herz schlug unruhig, in geheimer Panik, im umbewussten Wissen, dass der Schatten noch immer lauerte. Der Tanz war noch nicht beendet, und es war auch unklar, ob er jemals beendet werden konnte. Wie sehr sie Gethzerion doch verfluchen musste und doch hielt sie etwas zurück, ließ sie kaum klar denken, denn die Flucht blieb vorerst alles, was ihr blieb. Dennoch schaffte es dieses Feuer einen Moment der Ruhe zu schaffen. Worte, sie brauchte Worte, einen Satz, um zu sprechen, sie auszutauschen und mit dieser Schwester wahrlich aufrichtig zu sprechen. Wenigstens sprach die Unbekannte, wählte Worte, die nicht weniger verwirrend für Lumi'ell waren, als der verdorbene Wahnsinn der tiefen Wälder. Es gebot sich aufmerksam, wohl gemerkt, wachsam, zu sein, um zu verstehen, wer vor ihr war und wer sie war. Namen kannte Lumi'ell einige, auch die Verbotenen, und doch konnte sie dieser Nachtschwester keinen Namen zuordnen. Sie konnte entschlüsseln, was sie suchte, was sie mitunter vom Schicksal ersuchte, so dass Lumi'ell damit übereinkam, dass beide vielleicht das gleiche Ziel hatten: diese Welt zu verlassen. Dathomir hinter sich zu lassen, neue Welten zu erkunden und mehr zu sehen, als das, was Gethzerion erlauben wollte. "Ja," antwortete die nachdenkliche Nachtschwester mit einem Nicken, strich sich dabei nervös durch die Haare und seufzte. Ihre Atmung war schwer und doch konnte sie für einen Moment freier atmen. Ihr Gegenüber war vorerst keine Gefahr, mit dem gleichen Ziel versehen, so denn ein wenig Hoffnung bestand, dass sie ihre Flucht für ein paar Atemzüge pausieren konnte.

Das seltsame aber ruhige Tier beachtete sie kaum. Doch hin und wieder konnte das Brummen des Bolmas, Lumi'ell ein fürsorgliches Lächeln und gleichsame Gedanken entlocken. Lumi'ell mochte Tiere, anders als manch andere Schwester.

Doch dann geschah etwas, was Lumi'ell überraschte. Die Fremde griff mit ihrer Hand ruhig nach Lumi'ells Kinn, um jenen Kopf zu drehen und sie direkt anzusehen. Lumi'ell kannte das nicht, da sie andere Schwestern oft gemieden hatten und auch war ihr diese Nähe unangenehm, denn die Fremde drang in einen Bereich ein, der sie in Gefahr bringen konnte, da kaum noch Reaktionszeit blieb. Gerade wollte sie ihren Kopf zurückziehen, dem Blick ausweichen, da ließ die fremde Nachtschwester auch schon ab. Kurz pochte Lumi'ells Herz, ließ sie mit weit geöffneten Augen auf die andere zurück blicken. Sie forderte sie auf, etwas zu trinken, reichte ihr sogar einen Wasserschlauch, den Lumi'ell mit ihren langen Fingern griff. Fast hypnotisiert, gebannt von dem vorbeigegangenen tiefen Blick, trank sie wortlos. Sie war fast erstarrt und musste sich erst befreien, denn die merkwürdige Aura der Fremden, die nun einen Namen hatte, war stark. Lumi'ell nickte, während sie jene Erstarrung abschütteln konnte. "Danke," sagte sie zögerlich und wiederholte dann den genannten Namen. Die Regeln der Gemeinschaft verlangten wohl nun auch eine Vorstellung ihrer selbst. "Ich bin Lumi'ell, Tochter der Aoife," sagte sie dann mit einem vorsichtigen - fast schüchternen - Lächeln, was jedoch an Stärke gewann und wahrlich keine Schwäche offenbarte.

"Ich kann das nicht annehmen,"
meinte sie und deutete auf die Unterlage, obwohl eine - fast bequeme - Unterlage besser war als der harte Boden neben einem Bolmas. Doch Lumi'ell war viel zu freundlich, viel zu gutmütig, um diese Unterlage nicht mit einem paar Worten abzuwehren, auch wenn ihr Körper und Geist sicherlich nach einem fast bequemen Schlaf hungerten. Mit ihrer Linken wischte sie sich achtsam einen Wassertropfen vom Kinn.
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