#54
Die Macht schien mitunter ein seltsames Faible für Überraschungen oder Unerklärbares zu haben. Erst hatte jemand Sedrael irgendwann ohne Erklärung aus ihrer dunklen Zelle geholt, sie dann in ihrem Quartier duschen und umziehen lassen, nur um sie ebenfalls ohne Erklärung dort wieder unter Arrest zu stellen, sie in eine Raumfähre gesteckt und schließlich auf diese verlassene Welt geflogen. Die seltsame rote Frau hatte sie nie mehr gesehen, aber es war kaum möglich, das zu bedauern. Stattdessen war da nur dieser blonde Mann in der schwarzen Uniform gewesen, der sie von der Rampe des Shuttles geschubst hatte. Eigentlich hatte Sedrael nicht damit gerechnet, dass man sie einfach so gehen lassen würde – auch wenn „einfach so“ in Anbetracht dieser kargen, aggressiven Welt letztlich wohl gar nicht so milde war. Viel gefährlicher war allerdings dieser Blaster gewesen, den die schwarze Uniform stets bei sich getragen hatte. Noch unerklärbarer war nur der Umstand gewesen, dass er tatsächlich ein Lichtschwert mit sich geführt hatte, obwohl Sedrael um den Verstand des Mannes keinerlei ungewöhnliche Dehnungen im sanften Strom der Macht hatte spüren können.
„Nein. Da lang“, hatte er gebrummt, als Sedrael sich willkürlich für eine Richtung weg von dem Shuttle entschieden hatte, und ihr mit dem Blaster in eine andere Richtung gezeigt. Warum? Unerklärbar. Sie sollte eben dort hin. Nicht dass es einen Unterschied machte. Ohne Essen und Trinken musste es fast gleichgültig sein, welchen Weg sie einschlug, aber er schien besonderen Wert auf eine Richtung zu legen. Sie sah zu ihm hoch, wie er da am Rand der Rampe stand, ja thronte, die Hände vorne übereinander geschlagen und den Blaster in der Rechten. Irgendwann war sie dann dorthin gegangen und der körnige Sturm hatte die graue Fähre bereits nach Minuten außer Sicht geraten lassen. War er ihr gefolgt? Sie konnte es nicht sicher sagen. Irgendetwas auf diesem Planeten war… speziell, nichts so, wie sie es kannte. Sie fühlte sich beinahe blind, nicht nur wegen des Sturms, der bald dazu führte, dass sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Vielmehr waren ihre Sinne lahm, im Ansatz jedenfalls. So wie eine taube Fingerkuppe. Alles war da, aber irgendetwas war doch gleichzeitig so fremdartig und ungewohnt. Und sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es am Ende auch genau dieser nagender Zustand in ihrem Kopf war, warum sie nun gerade hier war.

Es hatte nicht lang gedauert, bis sie an einem großen Schrottfeld angekommen war. Metallene Haufen, aufgeheizt von der Wärme, so dass Sandkörner im Laufe der Jahrhunderte den Durastahl verformt hatten. Einige seltsame, blutrote Runen waren mitunter zu erkennen, doch Sedrael konnte nichts davon entziffern – nichts weiter als die Überreste einer alten, toten Zivilisation, ausgebreitet auf dem großen braunen Sandteppich, der sie irgendwann vollständig vereinnahmt haben würde. Mehr noch bestärkte sich der Eindruck, als sie am Rande eines gewaltigen Kraters stand und ungläubig hinabblickte. Im Inneren war aus dem Sand Glas geformt worden, das sich gierig mit an den Rand des Kratzers schleppte und nur matt spiegelte. Immense Hitze musste dort plötzlich explodiert sein und hatte gläserne Schrapnelle durch die Luft geworfen. Sie blieb eine Weile dort stehen, während der Wind ihr Haar wild streichelte. Aus dem Krater sprachen Leid und Verzweiflung, dort auf ewig festgehalten in einem zwecklosen Spiegel. Nach dem zwanzigsten solchen Krater auf ihrem Weg hatte sie aufgehört, sie zu zählen. Ein großes Schlachtfeld antiker Kriege, längst vergessen außer auf alten, verblassten Seiten noch älterer Bücher. Obwohl sie lange niemanden hatte sehen können, war da doch ständig das Gefühl gewesen, dass irgendjemand sie beobachtete. Aber erst als der Wind einen kurzen Moment nachließ, hatte sie auch in der Ferne diesen einen Umriss erkannt, irgendeine schwarze Figur, die dort einsam stand und die Sephi betrachtete. Doch selbst auf die Entfernung hatte sie sehen können, dass die Person mit einem Blaster bewaffnet war. Als der Sturm wieder an Fahrt gewonnen hatte, verschwand der Umriss jedoch bald wieder im lebendigen, tobenden Meer. Nichtsdestotrotz sagte ihr irgendetwas, dass es nicht das letzte Mal gewesen war und beständig lag dieser Schleier in der Luft, der ihr mitteilte, dass ihr immer noch etwas folgte. Immer mit diesem paranoiden Gefühl im Rücken, das in ihrem Nacken als unangenehmer Druck hinaufstieg, schien die sich irgendwann vor ihr auftuende Schlucht als gute Gelegenheit, sich dort zu verstecken und nicht zuletzt, um dem Wind und den Sandkörnern zu entgehen. Irgendwo in einer der Schluchten meinte sie dann, ein großes Gebäude ausgemacht zu haben, doch zeitweise war sie nicht mehr sicher, ob das tatsächlich real gewesen oder lediglich ein Wunschtraum gewesen war. Ihr Mund war bereits viel zu trocken und sie begann nicht zu erwarten, auf einem solchen kargen, unwirtlichen Planeten zufällig auf eine natürliche Wasserquelle zu stoßen, ehe sie verdurstet war. Das große tempelartige Gebäude konnte aber nicht fern sein und schien ihre beste Möglichkeit auf intelligentes Leben im weiteren Umkreis, doch die großen, verzweigten Schluchten ließen das Gebäude in der Ferne bald verschwinden, unklar ob es wirklich je existiert hatte. Umso erleichterter hatte sie irgendwann dieses Lager entdeckt, eine alte Expedition Unbekannter, die aus welchen Gründen auch immer fort waren, doch ihr Basislager hier hatten stehen lassen. Als sie dort chaotisch die Kisten durchwühlt hatte und schließlich in einer surrenden Kühlbox auf Trinkflaschen stieß, war sie in ihrem Leben seltener dankbarer für ein bisschen Flüssigkeit. Das kühle Süß erfrischte herrlich und Sedrael konnte dem Drang, sich ein Drittel einer Flasche ins raue Gesicht zu schütten, nicht widerstehen.

Das weitere Durchstöbern des Lagers war teilweise ergiebig gewesen. Ein paar kleine Medi-Kits, zwei Rationskisten, allerdings beide mit einem elektronischen Schloss codiert und die zufälligen Kombinationen, die sie wahrscheinlich über mehrere Stunden versucht hatte, brachten keinen Erfolg. Das mochte eine der wenigen Gelegenheiten gewesen sein, in dem ihr Lichtschwert als Gegenstand tatsächlich von Wert gewesen wäre. Außerdem war da noch diese wirre Aufzeichnung mit krakeliger Schrift auf einer stilisierten Karte. Es schien schnell klar, dass die Schrift in der gleichen seltsamen Runensprache geschrieben stand wie seinerzeit auf dem Friedhof – was Sedrael irritierte, nicht zuletzt weil die Metallreste auf dem Maschinenfriedhof dort sicherlich schon hunderte Jahre liegen mussten, während dieses Stück Flimsi bei weitem nicht so alt sein konnte, sondern vergleichsweise frisch wirkte. Seltsamer war noch, dass die Kisten und Zelte alle imperiale Wappen trugen, diese seltsamen verkrüppelten Speichenlogos, welche die Sephi vorher nur in ihrer puren Form als das Zeichen der Republik gekannt hatte. Doch auf den imperialen Raumschiffen war sie diesem neuen Symbol ständig begegnet. Dieses Lager konnte also allenfalls einige Jahre existieren. Sedrael nahm sich vor, die Karte am nächsten Tag genauer zu studieren, da dort gewisse offenbar relevante Punkte markiert waren, doch war ihr unklar, wo auf der Karte sie sich selbst befand. Die Dunkelheit der Nacht begann bereits anzubrechen und somit auch die Müdigkeit nach dem langen, anstrengenden Marsch. Doch der Nebeneffekt des so herbeigesehnten Sonnenuntergangs führte bald zum erwarteten Temperatursturz dank eines völlig wolkenlosen Himmels, an dem die Monde des Planeten glitzerten. Der Sturm war vorübergezogen, zumindest für den Moment. Sie hatte daher beschlossen, die Feuerstelle inmitten des Lagers zu nutzen und dank des simplen, offenbar kaum gebrauchten Mechanismus ein kleines Feuer zu entfachen, das ihr Wärme spendete. Zwar mochte ein solches Feuer Aufmerksamkeit erregen – aber da ihr bewusst war, ohnehin auf die eine oder andere Art beobachtet zu werden, schien es gar nicht mehr so notwendig, sich vor etwas zu verbergen, das jederzeit selbst entscheiden konnte, wann es sich zeigte und wann nicht.

Letztlich geschah das auch. Denn dann, nach all diesen seltsamen Dingen, tauchte auf einmal jemand direkt vor ihr auf. Sie hatte damit gerechnet, dass es dieser schwarz gekleidete, bewaffnete Mann war, der sie verfolgt hatte, dessen Atem beständig in ihren Ohren klang und den sie seit dem Sturm nie wieder gesehen hatte. Doch anstelle dass er sich nun zu erkennen gab, stand plötzlich jemand völlig anderes vor ihr. Reah. Reah?! Sedraels Augen waren noch immer überrascht aufgerissen, als die Inquisitorin in ihre Richtung gehumpelt kam. Der große Schatten war zu einem Spielball geschrumpft, ihre Anwesenheit so unmerklich, so unauffällig, dass Sedrael sie nicht bemerkt hatte. Es war fast, als verging die Präsenz der Frau im weitaus dichteren Netz, das die Luft um sie herum spann, in alle Richtungen unsichtbar aussendete. Nur diese kleine Stecknadel funkelte in der großen Bedeutungsschwere, die der Planet schier endlos resonierte, so wehleidig und kehlig hinausstrahlte, als wolle er alles andere, was auf ihm war, übertönen, überschreiben. Alles sollte so klingen, wie er es wollte. Dieser Planet war vereinnahmend, er fraß. Labte sich an Verzweiflung und ergötzte sich am Leid seiner Opfer. Oder vielleicht auch an dem Ballast, den jeder mit sich führte. Mancher mehr, mancher weniger, und umso einfacher und gieriger griff er nach den offenen Wunden und versuchte ihnen mit Salz mehr Schmerz zu entlocken. Wo war sie hier nur? Als Sedrael zum ersten Mal Reah begegnet war, war es gewesen, als habe die Macht ihr mit einem toten, kalten Griff direkt ins Herz gefasst. Sie hatte so etwas noch nie erlebt, noch nie gespürt. Das, was hier in der Luft nun allgegenwärtig schien, war ähnlich – auf vielerlei Weise aber auch ganz anders. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber all diese Irrnis folgte Reahs Schatten, nagte an ihren Knochen, versuchte sie greifen und zu ihrer Spielpuppe zu machen. Doch es blieb draußen, ausgeschlossen. Es durfte nicht hinein. Reah wehrte sich.

Sedrael blinzelte ein paar Mal irritiert, als die Hexe stammelnd auf sie zukam, den Weg dann jedoch nicht mehr bewältigen konnte, sondern unter dem Gewicht ihrer Last neben ihrem improvisierten Stecken zusammenbrach. Emotionen krochen aus der harten Schale, die spröde Risse bekam, welche nur zu gern von den finsteren Klauenhänden vollständig aufgerissen werden wollten, um sie endgültig verfaulen zu können. Zischend öffnete die Sephi die Kühlbox und nahm eine der Flaschen hinaus. Reah wirkte völlig am Ende, überanstrengt, entkräftet. Vielleicht war sie sogar schon länger hier als Sedrael und hatte offenbar weitaus weniger Glück gehabt. Glück. War es das überhaupt gewesen? Sie war einem relativ klaren Pfad gefolgt, mehr oder weniger, der sie ohne große Umschweife hierhin geführt hatte. Plötzlich kam ihr wieder das Bild des Shuttles in den Geist. Wie der Offizier ihr den Weg wies, einen bestimmten Weg. Genau den, der sie hier zu diesem Basislager geführt hatte. War es das, wo sie hatte landen sollen? Vielleicht, aber es mochte sich bald zeigen. Vorsichtig näherte sich Sedrael der Frau, die Flasche in beiden Händen, Schritt für Schritt. Ihre letzte Begegnung war nicht ganz einfach gewesen, daher war sie nicht sicher, ob das Ganze wirklich angenehm oder unangenehm verlaufen würde. Ein Teil von ihr hatte gedacht, dass Reah für ihre Einsperrung in der Zelle verantwortlich gewesen war, aber sie hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Und sicherlich hatte sie inzwischen auch erfahren, was auf der Medi-Station des Schiffes geschehen war. Tiberius Vaash. Den Reah eiskalt wie eine Nuss geknackt und dann als bloßen Abfall zu Boden geworfen hatte. Empfand sie es als Verrat, dass Sedrael versucht hatte, den Mann zu retten? Aber dann blickte sie auf dieses Häufchen Elend, das dort am Boden lag – und das wirkte wie vieles, aber nicht wie jemand, der gerade einen Racheplan verfolgte. Niemals war Reah so verletzlich und, ja, schwach gewesen wie in diesem Moment, in dem die Fassade vielleicht zum ersten Mal gänzlich verschwunden war, die Inquisitorin, die Sith fortgespült war und nun nur noch an ihrem eigenen Strand angespült lag. Sedrael stand da, die Flasche in beiden Händen, blickte auf das Wesen hinunter. Die scharfe Spitze des Steckens glänzte im Schein des blutroten Feuers und heller Monde am Himmel. Vermutlich war es das, was sie hätte tun sollen, damals schon, als die Frau ihr das Schwert gereicht hatte und sie nur auf den Knopf hätte drücken müssen, um die Inquisitorin mit dem gelben Schein zu durchbohren. Wie anders die Dinge dann gelaufen wären, wusste nur die Macht. Ob Fehler oder Verdienst, am Ende richtete die Macht über sie und mochte darüber befinden, was dem Willen entsprochen hatte und was nicht. Damals schien ihre Entscheidung richtig gewesen, glaubte sie. Glaubte es noch immer.

Und so kniete sich Sedrael hin, legte die Flasche kurz weg und griff mit beiden Händen an Reahs Schultern, um sie von ihrer Lage auf dem Bauch vorsichtig auf den Rücken zu drehen, so dass Reahs Kopf in ihrer Armbeuge Platz fand.
„Schhh“, machte sie kurz. „Ganz ruhig.“
Ihre Augen fanden einige kleinere Schnittverletzungen an Reahs Körper – nichts Schwerwiegendes, aber in dieser Umgebung waren Infektionen dennoch immer ein mögliches Problem, auf das zu achten war. Oh. Erst jetzt erkannte sie, dass der Frau auch eine Hand fehlte. Sie betrachtete den Stumpen kurz, nichts, was sie nicht auch während des Kriegs im Tempel gesehen hätte – zumindest war die Wunde behandelt worden, ordentlich sogar, soweit sich das jetzt sagen ließ. Nähte hielten die Haut vor dem freigelegten Fleisch und Knochen zusammen, würden sich aber auflösen, sobald der reguläre Heilungsprozess abgeschlossen war. Sedrael schob mit der freien Hand die Kleidung über Reahs Armbeuge und sah dort auf ihrer Haut mehrere Einstiche, sicherlich Teil einer Vollnarkose. Mehrere Einstiche sprachen allerdings dafür, dass hier auch nach dem Eingriff noch künstlich eine Betäubung hervorgerufen worden war. Mithilfe eines Medi-Kits und – so die Macht wollte – vielleicht auch mit deren Hilfe, sollten die Verletzungen und etwaige Folgen behandelbar sein.
„Ich bin hier“, versicherte sie dem Gestammel der Frau in ruhigem Tonfall, während sie mit ihrer freien Hand nun wieder die Flasche am Boden aufnahm, mit zwei Fingern den Verschluss aufdrehte und die Flasche in Reahs vorhandene Hand legte, auch um ihre Wachheit, sowie Reaktions- und Aufnahmefähigkeit zu überprüfen.

Langsam schob sich Sedrael etwas näher an das wärmende Feuer heran, als der kühle Glanz der Wüstennacht sich auf sie legte. Immer nur ein bisschen, so dass die Schmerzrezeptoren für die vielen kleinen und größeren Wunden nicht sofort ein Inferno in Reahs Gehirn anrichteten. Erst als die schöne Flamme direkt neben ihnen loderte, gab die Heilerin ihre Patientin kurz frei und holte eines der harten, keilförmigen Kissen und ein Medi-Kit aus einem der Zelte. Achtsam hob sie Reahs Kopf langsam an und schob den gepolsterten Keil darunter.
„Was ist geschehen, Reah? Wo und warum sind wir hier?“
Womöglich war es nicht der beste Zeitpunkt, direkt auf die Antwort dieser so brennenden Frage zu drängen. Und doch schien die Antwort so wichtig zu sein, dass sie keinen Aufschub duldete – es mochte so vieles erklären, vielleicht auch, ob sie sich wirklich Sorgen machen mussten, in feindlicher Absicht beobachtet zu werden, von Einheimischen oder vielleicht von Schlimmerem. Gepresst ausatmend setzte sie sich auf eine der Rationskisten neben Reah und blickte hinaus in die dunkle Ferne, in der andeutungsweise fremde Felsen einander übertrafen und in geheimen Orten Lebewesen verbargen, die sich wohl ebenso über die Anwesenheit der ungleichen Gefährtinnen wunderten wie diese selbst. Oder zumindest nur diese eine bewaffnete Lebensform.
„Denn wir sind nicht allein“, fuhr sie kurz fort, während ihr Blick auf das Medi-Kit fiel, das sie öffnete und auf der Kiste neben sich ausbreitete. „Irgendjemand folgt mir schon eine Weile. Jemand mit einer Waffe.“
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