#73
Die Vergangenheit? Nein, irgendetwas… war nicht richtig daran. Teile der Vergangenheit, vielleicht vielerlei. Diamantene Splitter, die im Schein der Sonne gierig funkelten, dort lagen, zum Griff bereit und spiegelnd in hässlichen Zerrbildern. Die Worte pulsierten in bizarren Lauten, schief, abstoßend, ohne den melodischen Klang einer Stimme, mehr schnarrend wie ein künstlich hergestellter Laut, der zufällig so etwas wie Worte imitierte. Die Manifestation schnarrte weitere Buchstaben, bis hin zu Worten und knappen Sätzen heraus. Doch was auch immer es war, es verstand nicht. Nein, sie floh nicht vor Reah. Nicht dauerhaft, zumindest noch nicht. Am Ende war es vielmehr so, dass Reah vor ihr floh – nur eben auf ihre eigene Art und Weise. Wenn die Hexe ihr nachtrachtete, war das an sich gar nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Zumindest solange es auf der Basis war, dass sich beide nicht einander umbrachten. Diese Grenze schien Reah übertreten zu haben und darum saß sie nun hier. Sie hatte überhaupt nicht vor, endgültig vor der Frau zu flüchten. Ein Teil von ihr, sicherlich. Ein größer werdender Teil. Vielleiht auch der Teil, der ganz zu Beginn den Schwertknopf hatte betätigen wollen, der die Frau sterben und bezahlen lassen wollte. Ein Teil von ihr, der – wahrlich – existierte, irgendwo verborgen in ihr, mal mehr, mal weniger. Doch er war verborgen, versenkt in einer Gruft tief unter der Erde, an der ihre Hände hin und wieder graben wollten, um ihn hervorzuholen und zuzupacken. Aber vielleicht ruhte dieser Teil dort auch in aller Ewigkeit, fand seine zeitlose Stätte ohne jemals das Tageslicht zu sehen. Und dann war es auch gut so, wie es eben war.

Mit halb geschlossenen Augen betrachtete Sedrael das flammende Objekt vor ihr, schüttelte langsam den Kopf.
„Zu wenig Wasser“, murmelte sie unverständlich zu sich selbst und außerhalb jeden Zusammenhangs. Was auch immer hier war, sie halluzinierte offenkundig und sprach nur mit sich selbst – oder einer Facette ihrer Selbst, die irgendwo entfernt existierte, existieren musste. Doch immerhin war sie noch so weit bei Sinnen, es zu merken. Nicht mehr lang und selbst das mochte fort sein. Viel schien nicht zu fehlen. Um es zu kompensieren, musste sie infolge des Blutverlusts trinken, ihre dunklen Lippen waren trocken, rissen im staubigen Wind ein und ließ sie diese instinktiv aufeinanderpressen. Offenkundig war nichts hiervon real, so eingebildet wie die Umrisse der Person, die Silhouette, die sie eben noch geglaubt hatte zu sehen und die ebenso rasch wieder verschwunden wie sie auch getaucht war. Dieser Ort schimmerte zwielichtig und entließ Gedanken aus den hintersten Pfeilern ihrer Gedankenwelt, verborgen im Dunkelschatten des Lichts, dort wo sonst nichts mehr sein durfte. Was konnte es bedeuten, dass sie sich hier ausgerechnet das wirre Geschöpf aus ihrer Vision einbildete? Sie wusste es nicht, und doch schien es auch nicht die Zeit zu sein, darüber nachzudenken. Irgendwann später, doch nicht jetzt. Sie verlagerte das Gewicht ihres Körpers ein wenig seitwärts, so dass sie den Felsen hinter sich packen konnte und hievte sich mit Mühe daran hoch, zurück auf die Beine. Ihre Augen verzogen sich zu dünnen Schlitzen, als ein dröhnender Schmerz in ihrem Schädel sie beim Aufstehen dazu zwang. Die Kopfschmerzen wurden noch intensiver, als sie sich nach vorne beugte, um ihre Sachen wieder vom staubigen Boden zu klauben.

Ihr wurde beständig wärmer, vermutlich nur ein Nebeneffekt der aufziehenden Sonne, die nun immer höher im wolkenverhangenen Nebelkerzenfirmament über ihr thronte. Feine Schweißperlen bildeten sich wieder auf ihrer Stirn, mehr der kostbaren Flüssigkeit, die aus ihrem Inneren gepumpt und der Welt als Opfer preisgegeben wurde. Die empfindlichen blauen Augen brannten bereits jetzt, nagend hinter den Augenhöhlen, wenn sie in die Flammen des Steingesichts blickte. Ihre Hand schob sich davor, um sie vor dem Schmerz zu schützen, der darin lauerte, gleichermaßen in Körper und Geist. Die Illusion wirkte erstaunlich real, war jedoch so wirr und durcheinander, dass sie sich als solche enttarnt haben musste. Wie sollte eine Facette ihrer Selbst ihr helfen? Es war immer noch sie selbst, nicht, das sie nicht von sich kannte oder wusste, dass es in ihr – wie in jedem anderen auch – existierte. Die Ödnis der Staubkugel lag offen vor ihr und nichts an Sedrael selbst vermochte dies in der einen oder anderen Richtung zu ändern. Wille. Ein Wort, das hier überhaupt keine Maßgabe besaß. Sie lachte trocken der Halluzination entgegen, leise, keuchend, aber doch ehrlich amüsiert, bis zu dem Punkt, als sie nicht anders konnte, als mit sich selbst zu sprechen, um der sengenden Stimme zu erwidern, die dort rabenhaft saß und ihre Schwingen ausgebreitet hatte, nur um imposanter zu erscheinen. Vielleicht wollte ein Teil von ihr all das nicht verstehen, doch sie musste ihn verstehen lassen. Ihn… bändigen, zähmen. Doch solange sie ihn nur belächelte, war es wohl nicht möglich – aber es war einfacher, weitaus einfacher als sich ihm zu stellen und ihm Existenz zuzugestehen, die sie ihm eigentlich gar nicht zugestehen wollte.
„Ob ich will?“, höhnte sie daher zu sich selbst in Form des irrealen Steingesichts, leicht krächzend, bis es in ein Husten überging. Ihr eigener Wille war letztlich bedeutungslos, änderte nichts, weder an dieser Situation noch an anderen. Es war nur ein Wille, einer von Endlosen. Jeder mit eigenen Wünschen angereichert, teilweise sich widersprechend. Der eigene Wille war am Ende kein Maßstab für die Macht. Die Macht dehnte und beugte ihn, schuf und zerstörte ihn. Ein kleines Wesen, physisch und psychisch in seiner Existenz und Wahrnehmung beschränkt, war zu belanglos als dass sein Wille in irgendeiner Form Relevanz hatte.
„Ich lebe. So es der Macht gefällt, werde ich das auch weiterhin. Andernfalls…“
Ihr Kopf glitt kurz zur Seite, in Richtung des erdigen Bodens. Sie nahm etwas davon in ihre Linke, einen Erdklumpen und zerdrückte ihn, so dass die trockene Erde zerbarst und in tausenden einzelnen Partikeln aus ihrer Hand von der Windbrise fortgetragen wurde. So war es nun einmal, Dinge kamen und verschwanden. Sie selbst ebenso wie alles andere auch. Warum erklärte sie sich selbst? Die Macht war ein wundersamer Begleiter, selbst jetzt noch, wo ihre Sinne wieder schwächelten und es ihr nicht gelang, die Kontrolle über sich selbst zu finden. Es war wie vorhin, gegenüber Reah. Wo sie verängstigt gewesen war, von dem was sie gesehen und ihr in der Vision widerfahren war, wo die Kontrolle einen Moment lang blockiert war und das Picken an den Diamanten durch den Schnabel bereits spürbar wurde. Es war der Zwiespalt gewesen, den die Frau immer wieder herausgefordert hatte, der Zwiespalt aus ändern und bleiben – aber warum? Warum verlangte Reah beides von ihr, einen Widerspruch, dem sie ohnehin niemals gerecht werden können? Am Ende stand nur das Steingesicht im Weg, das den Widerspruch überhaupt erst möglich machte – allein, indem es existierte. Kontrollieren war zwar machbar, aber nicht immer, nicht in jeder Situation. Ignorieren ließ es nur wachsen, ihre Gedanken unterschwellig vergiften, vielleicht ohne dass sie es wünschte oder gar realisierte. Ihr verengter Blick landete kurz auf dem Teil ihrer Wesenheit, der vor ihr flimmerte und ihre Weltsicht unscharf werden ließ. Der Sekundenblick vor das Höllentor. Aber akzeptieren… war steinig, fehleranfälliger als alles andere und rief einen beißenden Ekel in ihr hervor, dem sie sich nicht bereit war zu stellen. Noch nicht. Vielleicht niemals.
„Ich… muss zurück“, sagte sie langsam und zwang sich, davon wegzusehen. Sich Reah zu stellen, war nur eine Frage der Zeit, ein Erfordernis, das passieren musste, ganz gleich wie lange sie es aufschob. Die beiden Gefährtinnen waren noch nicht getrennt – und wenn es bedeutete, dass sie beide wieder aufeinander losgingen, dann war es am Ende vielleicht sogar das, was sein musste. Solange sie das Flammenmeer nur kontrollieren und nicht akzeptieren musste. Und so wandte sie sich wieder ab, ließ sich selbst in wütenden Flammen zurück und schlurfte wieder mit müden Schritten in die Richtung, aus der sie gekommen war. Aber ob das Inferno sie noch einmal ließ oder ihr nun wütend in den Rücken fiel, um sie aufzuhalten und ihrer habhaft werden zu wollen?
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