#64
Rankenreich schlang sich Gedanke um Gedanke um den blassen Körper, rastlos inmitten belangloser Materie. Das gefiederte Krähen in der Ferne war wieder lauter geworden, hallte nunmehr krächzend als spöttisches, höhnisches Gelächter. Die Schwingen badeten im See aus Realität und Fiktion, doch wenn sie nach dem Wasser griff, entrann es nur zwischen den grauen Fingern, unklar, welcher Teil davon nun echt war und welcher nicht. Und was bedeutete echt überhaupt? Wie real mochten Traumbilder am Ende wirklich sein – Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit. Vielleicht alles, vielleicht nichts. Doch dieses hier, es erschien nicht wie die Schimäre eines einfachen Geistes, es schien mehr zu sein als eine bloße Verknüpfung, die das Gehirn im Schlaf arbeiten ließ und zusammenhangslose Bilder präsentierte. Das hier, es war echt gewesen, in irgendeiner Form. Womöglich nicht in einer greifbaren Form. Und dennoch. In ihrer Nase roch sie noch immer den diesigen Rauch, als die Körper in Asche vergangen waren, spürte die Elektrizität in der Luft, die ihr die Nackenhaare wanken ließ. Und noch immer schien ihre Haut zu dampfen von all den Flammen, die sie verschlungen hatten. Sie betrachtete ihre Handfläche einige Sekunden lang, befühlte sie misstrauisch. Eiskalt. Keine Spur von der flammenden Hitze, die sie eben noch gespürt hatte. Auch an ihrer Schulter nicht. Eigentlich schien alles normal. Und doch war es das nicht. Die Schmerzen waren echt gewesen oder zumindest hatten sie sich echt angefühlt, für diesen einen kurzen Moment. Zu ihrem Glück war es aber so intensiv gewesen, dass sie sofort aus der Illusion gerissen worden war. Andererseits war auch genau das das Irritierende daran.

Es dauerte eine Weile, ehe sie verarbeitet hatte, dass neben ihr nun jemand saß und eine Stimme in ihren Kopf eindrang. Dennoch brauchte es einige Zeit, ehe sie überhaupt darauf reagierte, darauf wartend, dass sich ihr Körper wieder normalisierte. Doch zu jung war es, die Unruhe in ihrem Innersten und das Zittern ihrer Hand stoppte nicht, ihr Blick weiter darauf fixiert, da sie nicht in der Lage war, ihren Blick zu Reah anzuheben.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete sie der Frage dann frustriert, fast schnippisch, nicht in der wohltuenden, kontrollierten Stimme wie sonst. Woher sollte sie diese Dinge immer wissen? Sie seufzte unterdrückt, atmete dabei sehr langgezogen aus und könnte dabei in ihrem Inneren die Herzschläge zählen. Allmählich sammelte sie die Worte in ihrem Kopf an, ehe sie mit ruhigerer Stimme fortfahren konnte.
„Es war eine Art Ritual. Irgendein krankes Experiment mit anderen Leben. Aber was es auch war, es gelang nicht. Er schaffte es nicht.“
Noch nicht? Sie sprach es nicht aus. Die Bemühungen des Totenschädels waren drängend, quälend. Fast so als habe er solche Dinge bereits mehrfach versucht und niemals war das erwünschte Ergebnis eingetreten. Es würde also immer noch mehr sein müssen. Bis… ja, bis was passierte? Was war der Zweck des Ganzen? Unmöglich zu sagen. Visionen waren zumeist unklar, schwierig zu lesen, als wurde die Realität hinter dem unscharfen Schleier wahrgenommen, der ungewollten Spielraum für Interpretationen eröffnete, wo keine sein durften. Ihr Meister hatte versucht, sie darauf vorzubereiten. Techniken begreiflich zu machen. Ruhig werden. Sich öffnen. Sich darauf einlassen. Sich hingeben. So einfache Worte und Ratschläge und doch so schwierig anzuwenden. Vermutlich hätte sie es heute besser gekonnt, wäre sie länger bei ihm geblieben; trainiert, allein und in Sehergruppen. Auf der anderen Seite, vermutlich wäre sie dann nun bereits tot, wie der Rest ihrer alten Weggefährten. Was das Gesehene auch war und vor allem, was dessen Zweck darstellte – es war ein diabolisches Unterfangen, eine blutige Pervertierung der Macht selbst, unnatürlich als künstlicher Stachel im Gefüge, den ein Wahnsinniger dort immer weiter mit gierigen Klauen hineinschlug in der vagen Hoffnung, dort nach den Gedärmen zu greifen, sie sich gierig einzuverleiben und ihre Kraft in sich aufzunehmen.

Vielleicht hätte sie noch mehr erfahren können, wäre dort nicht das Wesen in den Flammen erschienen. Eine eigenartige, verwirrende Erscheinung. Es war das erste Mal, dass innerhalb einer Vision etwas auf sie reagiert hatte – ansonsten waren sie stets passiver Natur. Man sah, erfuhr etwas, doch ohne Bezug zu der eigenen Rolle innerhalb des Gesehenen. Sicherlich auch deswegen hatte es sich so real angefühlt. Und ohne Zweifel musste das etwas bedeuten. Dass es hier anders war als bisher, ließ die Sephi frösteln. Was sie auch immer suchten, es mochte etwas sein, das beide noch nie zuvor erlebt hatten oder sich gar nicht erst vorstellen konnten. Sedraels große Augen blickten geweitet in das Gesicht ihrer Gefährtin. Sie schluckte kurz, dann kamen ihre Arme aus dem Schutz der purpurnen Robe hervor. Süß kitzelte die Brise ihre Haut, sorgte für leichte Gänsehaut, als die Luft sie streichelte. Ihre beiden Hände landeten jeweils auf Reahs Schultern, drückten gegen diese, fast schon zu fest.
„Reah, wir müssen sehr vorsichtig sein“, fuhr sie fort, drängend und kopfschüttelnd. „Irgendjemand unterstützt ihn… oder irgendetwas. Etwas Mächtiges. Es ist in seinem Kopf, labt sich an seinem Irrsinn. Und es möchte nicht, dass er gestört wird.“
Was mochte es sein? Sie hatte keine Idee. Die Flammen waren zu grell, die Zeit zu kurz gewesen. Irgendeine Form von Intelligenz musste irgendwo in dem Inferno stecken, doch Sedrael war sich nicht sicher, ob es wahrlich eine kluge Idee war, in es zu greifen, nur um dies herauszufinden. Vielleicht würden sie es dann finden, doch nur um den Preis von Schmerzen und verbrannten Gliedmaßen. Ob es das wert war? Vermutlich nicht, doch am Ende des Tages hatten sie ohnehin keine echte Wahl. Sie waren gestrandet und ohne Ergebnisse würde man sie nicht mehr abholen, das hatte man ihr auf dem Weg klargemacht. Endloses Vegetieren auf einem kahlen Planeten oder das Eintreten in die Höhle des Rancors, um womöglich Fragen zu beantworten, die besser niemals jemand aufgeworfen hätte. Ihre Geschichte würde hier nicht enden, das schien ihr die Macht mitzuteilen. Visionen bedeuteten etwas und die Macht hätte keine entsandt, um sie einer Sterbenden zu offenbaren. Das ergab keinen Sinn. Und doch wusste sie, dass noch mehr da war. Irgendetwas war seltsam. Stimmte nicht. Sie konnte es fühlen. Einzelne Salzkörner, die in der Wunde verstreut wurden, unachtsam oder vielleicht auch gezielt. Etwas an Vision war vertraut gewesen – nichts von dem, was sie gesehen hatte. Es war ein Gefühl, im Hintergrund lediglich, während des Lagers – nicht mit der Hand zu fassen und doch wusste man, dass es da war, wenn man nur genug im Fluss der Macht gelauscht hatte. Und dann war sie da, die Erkenntnis. Es war die Art und Weise, wie die Macht sich verschob und dehnte, streckte. Bei jedem ein wenig anders, meist nur ein wenig. Wie ein Fingerabdruck. Aber niemals würde die Sephi diesen Augenblick vergessen auf ihrer Heimatwelt, als sie genau das das erste Mal fühlen musste. Und auch gerade jetzt wieder tat. Sedraels Griff auf Reahs Schultern lockerte sich von einer Sekunde auf die nächste völlig. Ihre Hände hoben sich um ein paar Zentimeter an. Sie blinzelte überrascht, starrte dann der Hexe ins Gesicht, anders jedoch als zuvor.
„Du warst bereits hier“, sagte sie dann, tonloser als eben noch. Es war keine Frage. Instinktiv schob sich ihr Kopf ein Stück von Reah fort, als wolle sie direkt Abstand gewinnen. „Vor kurzem erst. Während er hier war.“
Was mochte das bedeuten? So viele Möglichkeiten. Aber in dem Moment war ihr Kopf bereits so leer, dass sie nicht in der Lage schien, ihn sich für weitere Gedankenspiele zu zerbrechen. Und doch war da wieder diese nagende Saat, das Misstrauen. War am Ende doch alles nur ein abgekartetes Spiel, in dem der Schädel und die Hexe kooperativ spielten, am Ende aber beide ihre eigene, ganz spezielle Rolle innehatten, um gemeinsam möglichst erfolgreich dabei zu sein?
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