#62
Niemand musste etwas tun? Eine bemerkenswert naive Vorstellung, wie Sedrael befand. Natürlich gab es Dinge, die man tat, ohne Willen überhaupt zu handeln, ohne Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Hierfür musste nicht einmal die Macht bemüht werden. Schon ein einfacher körperlicher Reflex war eine Handlung, unwillentlich, ohne jede Möglichkeit, ihn zu unterdrücken. Wurde er ausgelöst, fand er statt. Man mochte sich dagegen auflehnen, ihn zu bekämpfen suchen. Es war aussichtslos. Ein Reflex konnte nicht kontrolliert werden. Wenn er ausgelöst wurde, war er. Genauso wie es mit der Macht war. Wenn bestimmte Reize erfüllt waren, war sie. Unabhängig davon, was jemand wollte oder nicht. Wie konnte man also hier sitzen und diese simple Behauptung in den Raum stellen? Es war Ideologie – eine Floskel im Raum, die vorausgesetzt und nicht hinterfragt wurde. Keine Erklärung, nur Worte. Leere Worte. Sedrael begann den Eindruck zu erlangen, dass ihre Gegenüber letztlich nur formularartig Sätze zitierte, die man ihr irgendwann in ihrem persönlichen Abgrund in den Mund gelegt hatte, doch entweder schien sie nicht willens oder in der Lage, sie konsequent zu untermauern. Schon ihre sehr kurzen, zumeist ausweichenden Erläuterungen im Gefängnis auf dem großen Raumschiff hätten dies implizieren können, doch hatte Sedrael das damals noch immer als Test interpretiert. Die Zeit einer Notwendigkeit von Tests war indes längst vorüber. Der Unterschied mochte sein, dass die Hexe davon ausging, dass sie der Sephi in allen Belangen überlegen schien. Das stimmte sicherlich in einigen Dingen auch. In anderen jedoch weniger als die Hexe dachte. Denn die Ironie ihrer Aussage schien ihr selbst nicht aufzufallen. Ein persönlicher Kodex, gleich welche Art von Moral er einem auferlegte, war stets eine Entscheidung des Willens – und keine Frage des Müssens. Ob man sich an ihn hielt oder nicht, oblag allein der eigenen Moral. Ein Kodex war niemals ein universales Recht, das allein mit seiner Akzeptanz Gültigkeit errang, sondern stets eine persönliche Entscheidung. Man konnte ihn einhalten oder eben auch nicht. Insoweit hatte die Hexe durchaus recht: Es war der Weg des Willens, der einem die Schlinge um den Hals legen mochte. Es änderte nur nichts daran, dass dieser Punkt in keiner Weise etwas mit der Frage des Müssens zusammenhing. Das, was einige als Schicksal oder Bestimmung bezeichnen mochten, hatte nichts damit zu tun, was für Verhaltensweisen man sich freiwillig auferlegte. Ja, der Wille konnte dazu führen können, dass man sich die Schlinge um den Hals legte, doch am Ende war es die Macht, die – dann einem unbekämpfbaren Reflex gleich – einem im entscheidenden Moment den Block unter den Füßen fortzog. Oder eben nicht.

Wie fremd musste eine Weltsicht sein, die keine Zwänge, sondern nur Willen kannte? Es schien pure Ideologie zu sein. Die Verneinung eines einfachen Verständnisses von Aktion und Reaktion. Und das empfand Sedrael als merkwürdig. Soweit sie das sagen konnte, war ein Kernbestandteil der Sith an sich gerade die Befreiung ihrer empfundenen Ketten – also Loslösung von Beschränkungen und Zwängen. Nicht nur in rein physischer und willentlicher Entgleisung, sondern eben auch in spiritueller Natur: Dass nicht die Macht über das Schicksal entschied, sondern nur der eigene Wille. Bloß schon dieser Umstand akzeptierte, ja er setzte zwingend voraus, dass es dieses Element tatsächlich überhaupt erst geben musste, bevor man es beseitigen konnte. Die Aussagen von Nigidus, die diesen Faktor völlig verneinte, schien daher überhaupt nicht mit dem zusammenzupassen, was ein Sith oder generell ein Wesen, das nach mehr Macht strebte, um mehr vermeintliche Freiheit zu erlangen, sinnvollerweise denken musste. War die Hexe letztlich nur ein Haufen fein geschnitzter Widersprüche, sich selbst nicht verstehend? Vernebelt im Verstand von den Mächten, die sie so gerne vorgab, kontrollieren und beherrschen zu können? Trotz der Zeit, welche die beiden nun schon miteinander verbracht hatten, fehlte noch immer die Antwort hierauf. Sie war so distanziert, wenn sie berichtete. Emotionslos, fast wie ein auktorialer Erzähler, der das Leben einer anderen Person dokumentierte. Und selbst hierin ging es niemals um das, was sie wollte, sondern immer nur um das, was sie wurde. Auch die Erwähnung von Nela Vali hatte der Frau keinerlei Reaktion abgerungen. Weder in die eine noch in die andere Richtung. Wirklich? Kaum ein Jedi hätte sich dereinst so distanziert über seine eigene Biographie geäußert wie Nigidus das getan hatte. Wo war denn der Wille? Die Emotion, Unbändigkeit? Keine Trauer. Kein Bedauern. Keine Wut. Keine Freude. Keine Befriedigung. Nichts. Nichts, was irgendwie Aufschluss darüber hätte bieten können, wie sie zu ihrer Vergangenheit stand. Wo war das vermeintliche Ergebnis dessen, dass man diesen Pakt mit der Dunklen Seite achtete? Nichts davon war zu sehen. Sedrael ließ kurzzeitig den sie amüsierenden Gedanken zu, dass Nigidus tatsächlich weitaus weniger Emotionen nach außen hin zeigte, als der alte Orden es jemals verlangt hätte - tatsächlich erschien sie viel mehr wie ein steifer, alter Jedi-Meister, der nur noch alte Geschichten erzählte, aber keinerlei Leidenschaft dazu mehr aufbauen konnte und hin und wieder eine Weisheit zum Besten gab. Beinahe langweilig. Das war eine irritierende Beschreibung und nichts, was Sedrael eigentlich erwartet hätte. Und eine, die vermutlich auch nicht dem entsprach, was tatsächlich hinter der Fassade in dem Vulkan brodelte, der jederzeit ausbrechen konnte. So waren immer nur kleine Schritte in ihre Richtung möglich, zu kleine vielleicht. Doch Sedrael musste Acht geben, sie war nicht selbstmörderisch. Trotz aller Obliegenheiten der Jedi hing sie durchaus an ihrem Leben und hatte nicht vor, es leichtfertig aufs Spiel zu setzen, sofern es sich vermeiden ließ.

So blieb es lediglich bei einem Blick, den sie irgendwann müde abwandte und sich in Richtung eines der Zelte begab. Bald würde auch diese Passage wieder ihr Ende finden und vielleicht führte das Ganze dann auch nicht mehr tiefer hinein in die Abgründe, die sich auftaten. Wortlos schob Sedrael das Zelt auf und verschwand darin. An anderer Stelle hätte sie sich schutzlos fühlen können, doch an diesem verlassenen Ort schien es nichts zu geben, das in irgendeiner Form gefährlich werden konnte. Selbst ihr Verfolger schien nicht feindselig, darum sah sie keine Schwierigkeiten darin, zu Bett zu gehen. Sie legte ihre purpurne Robe und die Tunika ab, bis sie nur noch ein helles Shirt trug, geriet aber kurzzeitig ins Stocken, während sie den Stoff in ihren blassen Händen hielt, die allmählich rot zu schimmern begannen. Ihre Bewegungen wurden etwas langsamer. Sedrael kniff die Augen zusammen. Etwas stimmte nicht. Sie hielt sich krampfhaft am Stoff fest, so als könnte er sie beschützen, während sie mit geöffnetem Mund das Zelt betrachtete. Dann verschwanden ihre blauen Pupillen im Weiß ihrer Augen.
„Es ist Zeit“, sagte plötzlich eine männliche Stimme dumpf, in echoartigem Klang neben ihr. Sie fuhr herum. Zwischen Zelt und Lager stand jemand. Sie starrte die Person an, ein verschwommener Umriss. Eine schwarze Robe und dahinter irgendeine Art Schädel. Für Menschen leichenblass, fast wie die ihre Haut. Doch der Mann sprach nicht mit ihr. Schlieren bildeten sich in Sedraels Augenwinkeln, beinahe wie bläuliche Wolken, die sich vor ihren Augen ausbreiteten und alles wie durch einen unscharfen Filter wahrnehmen ließen. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, irgendwie wusste sie das. Das finstere Menschenwesen trottete während seiner Worte aus dem Zelt hinaus. Draußen, noch eine düster gekleidete Gestalt, eine junge Frau. Doch es war nicht Reah.
„Was werden wir finden, wenn wir ankommen?“, fragte die Frau langsam, während sie sich aus einer sitzenden Position erhob. Der Schädel lächelte und leckte sich hungrig über tote Lippen. Geistlose, stierende Augen blickten aus den Höhlen hinaus.
„Lüge. Wahrheit. Von allem etwas.“
„Wie werdet Ihr es voneinander trennen?“
Das Lächeln wuchs zu einem Donnergrollen eines Lachens an, ein tiefes, kehliges Geräusch. Die Erheiterung des Bösen vor der amüsierenden Heuchlerei des Guten.
„Es geht nicht darum, es zu trennen. Es geht darum, es zu werden.“
Sedrael öffnete den Mund, um zu sprechen, doch es gelang nicht. Es gab keine Wörter zu sagen. Die Gestalt wartete keinerlei Reaktion seiner Gegenüber ab, die niemals kam, sondern verließ das Lager mit gezielten Schritten in eine Richtung. Irritiert blickte die junge Dienerin einige Sekunden lang der schwarzen Robe hinterher, dann sah sie auf die geöffnete Versorgungskiste. Eine fein gepflegte Hand schob sich kurzzeitig in Richtung der wertvollen Vorräte, bereit, sie in den großzügigen Taschen ihrer eigenen Robe verschwinden zu lassen, stoppte dann jedoch. Sie blickte zur kleiner werdenden Gestalt, die keine Anstalten gemacht hatte, Vorräte mitzunehmen. Ihre Hand krümmte sich, dann wandte sie sich ab und lief dem Schädel hinterher. Die Sephi blickte den beiden nach, blinzelte die Wolken fort, auch wenn es schwer war. Sie fühlte, wie der Dunst ähnlich wie Staubkörner gnadenlos an ihrer Haut rieb. In ihren Sedraels Ohren pochte etwas. Fast ein Rhythmus. Ihr Herzschlag? Die Beine fingen an nachzugeben und um den Sturz zu betteln. Schwarze Flecken fraßen sich in ihr Sichtfeld. Nein, noch nicht. Da war noch mehr. Irgendetwas verbarg sich noch in den Wolken, kam näher. Stimmen, ein… Gesang? Dann eine finstere, düstere Welt. Ein riesiger Platz mit vier turmhohen Säulen. An jeder ein blendendes grellweißes Etwas, schwerlich erkennbar in den dichten Wolken, die sie zu verdecken versuchten. Ein Geheimnis. Eines, das niemand leichtfertig erfahren durfte. Doch dann eine kurze, verstohlene Blicköffnung in der diesigen Dunkelkammer – es waren Körper, je einer angekettet an ihre Pfähle. Blitze. Rauchschwaden. Etwas schien zu passieren. Der Gesang wurde lauter, fordernder, aggressiver. Mit einem Mal gierten die Funken in Richtung der Körper. Bizarre Energie griff nach den vier Säulen, an denen die eingekerkerten Seelen verstört brüllten, ehe ihre Körper in äscherne Knochen verwandelt wurden. Singende, beinah betende Gestalten auf den Knien, die Hände zitternd, flehend zum Opferritual. Selbst unsicher und überwältigt, leidend. Vesperum, riefen sie, immer wieder, suchten ihr eigenes Heil in unbedingter Inbrunst. Und inmitten all der Groteske stand der Totenschädelmensch in einer Vertiefung, mit noch zerstörterer Haut, die wie altes Leder rissig und furchendurchzogen um seinen Schädel hing und jederzeit abzufallen drohte. Tiefste Augenringe zeichneten das graue, grässliche Antlitz. Überall der Geruch von Tod und Verderbnis, die alles überdeckte. Dämonengleich ließ sich der Schädel von den Mächten vereinnahmen, gefügig, bereitwillig. Ohne Reue. Mit in die Luft gereckten Klauenhänden beschwor er die fanatischen Kräfte jenseits vorstellbaren Wahnsinns, während sein Geist vom Nektar finsterer Energie kostete, ohne seinen Körper davon probieren zu lassen. Wie ein Geschenk der Henkersmahlzeit thronte sie eine Zeit lang über seinen Klauen, gierig wollte ein Teil von ihm sie verspeisen und die Blutenergie in sich aufnehmen. Um ihn herum verzerrte sich die Wirklichkeit, schien reale Welt und Fiktion einen Sekundenbruchteil zu spalten. Aber irgendetwas hielt zurück. Seine Augen tobten wütend. Es reicht nicht. Nicht genug. Mehr. Unzufrieden knurrte der Schädel, dessen Adern heftig pumpten. Doch plötzlich brannte Sedraels Schulter, als ein Feuerschein neben ihr aufflammte und eine brennende Hand sie herumriss.
„Fort, Jedi!“, spuckte ihr eine uralte Frauenstimme entgegen und entfachte die Hölle in Sedraels Körper, als sich die Hand um ihren Hals legte und sie in peinigende Flammen aufgehen ließ. Am Ende blieb nur wieder die Schwärze, wie verkohltes Fleisch.

Sie schreckte auf. Binnen einer Sekunde war sie wie elektrisiert aufgesprungen und geriet dabei schwer atmend beinahe aus dem Gleichgewicht. Es war wieder geschehen. Und… jetzt? Schweiß tropfte von ihrer Stirn hinunter. Mit zittrigen Händen warf sie sich nur rasch die unordentlich neben ihr am Boden liegende Robe über ihr Shirt, wankte mit Mühe in Richtung des Zeltausgangs, den sie aufriss und nach draußen stolperte. Sie sah die geöffnete Versorgungskiste, da, wo die Dienerin gesessen war. Keuchend folgte ihr Blick dem Weg, den der Mann genommen hatte, hinein zwischen die Schluchten. Und irgendwo zwischen all den Eindrücken saß plötzlich jemand mitten im Lager. Erschrocken und völlig überrascht zuckte Sedrael zusammen und machte instinktiv einen Schritt zurück, trat dabei gegen die Versorgungskiste, die daraufhin lautstark umfiel. Noch nicht vorüber? Sedraels blaue Augen durchforschten die Umrisse der Person, die sich langsam schärften. Eine Frau. Doch… der Jemand war nur Reah. Die Last fiel ihr von den Schultern, ließ sie neben der Kiste zusammensinken. Sie war zurück. Immer schon war es schwer gewesen, zwischen Realität und Traum zu entscheiden. Und zwischen dem, was mehr als Traum war. Es wird dich dein Leben begleiten, hatte ihr Meister gesagt. Vermutlich war sie deswegen seine Schülerin geworden, die eines Sehers. Aber ich kann dir helfen, es zu trennen. Damit umzugehen. So weit war es nie gekommen, zu wenig Zeit. Es hatte nicht gereicht. Nicht genug.

Mit keuchenden Atemzügen blieb sie sitzen. Sie schluckte den Schleim in ihrem Mund herunter.
„Ich habe ihn gesehen“, sagte sie dann mit brüchiger Stimme, sich unklar darüber, ob Reah sie bereits bemerkt hatte oder nicht. Mehr Erklärung war nicht notwendig. Sedraels Blick starrte ohne zu blinzeln in das geschwärzte Holz, in das, was vom wärmenden Feuer der Nacht übrig geblieben war.
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