#51
Klar? Sedrael sah den Mann müde an, häufiges Blinzeln verriet ihre schmerzenden Augen, die sich im Moment nur nach etwas Ruhe von dem Gesehenen und dem Geschehenen sehnten. Rot unterlaufene Augen, die klares Zeugnis davon abgaben, dass sie noch vor kurzem getränt hatten. Ihr Geist, weniger ihr Körper, verlangte nach Rast. So viel war geschehen, war zu erdulden, war zu bedenken gewesen. Zu viel, als dass der Geist eines einzelnen Individuums damit fertig werden konnte. Insbesondere wenn dieser Geist schon lange nicht mehr herausgefordert gewesen war. Eingekerkert gewesen war, gefangen im Nichts. Klar? War es denn so klar, wie der Mann vor ihr glaubte? Die Frage war für sie einfach zu beantworten.
„Nein“, stellte sie halblaut fest und widersprach dem Mann mehr zu sich selbst, ohne jede Bockigkeit oder Tadel in der Stimme, sondern fast so, als habe er ihr gegenüber einen trockenen Scherz gemacht, dem sie jetzt auf ähnlich trockene Weise antwortete. Vielleicht lagen Salzkörner von Wahrheit in den Worten des Mannes. Und dennoch, Gefangensein bedeutete Unfreiheit, die Einschränkung der Person und das Anlegen von Ketten, welche einem suggerierten, dass die Anwesenheit nicht erwünscht war. Nun war das zu weiten Teilen ohnehin der Zustand gewesen, wie sie die letzten Jahre erlebt hatte. Ein Zustand der Frustration und der Resignation. Auch wenn der Anlass verachtenswert war, so war die Schlussfolgerung daraus, dass sie nun weitaus weniger gefangen war, als vor diesem Tage. Sie war frei, etwas zu tun oder nicht zu tun. Sie war frei, sich zu widersetzen, eine Meinung zu bilden. Freier als seit vielen Jahren. Eine Gefangene? Seine Gefangene? Das, was ihr hier an Gefangenschaft widerfuhr, war im schlimmsten Falle lästig. Ein körperliches Gefängnis war sie gewohnt, aber die geistige Freiheit, die ihr jetzt entgegenströmte, war ein Genuss, ein selten erlebter, dessen Geschmack sie so lange nicht mehr gekostet hatte. Sie war frei von den unerfüllbaren Zwängen, denen sie sich die langen letzten Jahre über gewidmet hatte, widmen musste. Natürlich hatte sie sich freiwillig darin begeben, wohlwissend.

Vielleicht würde der Mann vor ihr diese Antwort als solche - sofern er sie überhaupt hören konnte - als dreist empfinden, aber weder wirkte sie als Person dreist noch war Frechheit von Sedrael beabsichtigt. Der menschliche Kommandant war – zumindest im Vergleich zu der Sephi selbst – imposant groß, aber sichtbar, auch rein körperlich, von der Macht gezeichnet worden durch seinen Dienst an der Finsternis. Das unterschied ihn von anderen. Sie sah keinen Grund zur Dreistigkeit. Andere waren mit sich im Reinen, wurden duchströmt von einer Aura der Selbstzufriedenheit und Überzeugtheit, wenn auch nur an der Oberfläche und unter der Fassade waren sie hilflose Gestalten, die von anderen Führung und Vorgaben benötigten, weil sie ansonsten eingingen. So wie der Offizier auf dem vorherigen Schiff, der sie als Ding bezeichnet hatte. Dieser hier schien anders, ein Stück weit zumindest. Er war nicht freundlich, zweifellos. Aber es gab dazu auch keinen Anlass. Hier standen sich keine Freunde gegenüber, keine Partner… es waren… nun, was eigentlich? Feinde? Nein. Es gab nicht viele, die Sedrael als Feind bezeichnen würde. Personen wie ihr Gegenüber fielen nicht darunter. Vielleicht war er auch verantwortlich dafür, was geschehen war, aber es befriedigte ihn nicht. Seine Augen, sein Innerstes verrieten ihn. Einen Moment lang dachte Sedrael über ihre Antwort nach.
„Der Tausch eines Gefängnisses durch ein weniger schlimmes, auch wenn es weiterhin ein Gefängnis bleibt“, antwortete sie ihm schließlich wahrheitsgemäß, während sie den Mann auf verschiedene Weise betrachtete, nahelegend, dass das kein Gedanke war, der ihm komplett fremd sein würde. Hatte er mehr gesehen als diesen Staat, der seine Anhänger auch nicht gerade wenig in Gleichförmigkeit gefangen zu halten schien? Vielleicht die Endphase der schon zu Sedraels Zeit auseinanderberstenden, maroden Republik? Und war er froh gewesen, einen neuen Staat entstehen zu sehen, auch wenn dieser vielleicht fast gleich verachtenswert war? Jedenfalls aber beantwortete sie damit seine Frage und bestätigte die ausgesprochene Vermutung, dass sie von dem brennenden Planeten kam.

Ein Planet mit einer tödlichen Seuche. Es war für Sedrael mithin keine große Überraschung, dass der Mann sie dazu aufforderte, sich untersuchen zu lassen, auch wenn es letztlich keine Rolle spielte. Das Virus befiel nur Firrerreo, jedenfalls schien es in all der Art nicht anderweitig mutiert zu sein. Wäre es jedoch so, wäre eine Überprüfung dennoch nutzlos. Dann würden er und alle an Bord in kurzer Zeit ihr Schicksal teilen und es würde keine Möglichkeit geben, etwas dagegen zu tun. Sie verzichtete indes darauf, den Mann darauf hinzuweisen.
„Ich bin gesund. Doch falls es Sie beruhigt, bin ich bereit, Ihre Sorgen zu zerstreuen.“
Keine Spur eines Zweifels. Sedrael kannte ihren Körper und die Macht half nicht zuletzt, jede Veränderung dort zu spüren. Krankheiten breiteten sich merklich aus, wenn man es zu fühlen vermochte, und daher konnte sie mit Gewissheit sagen, dass es ihr körperlich an nichts fehlte.
„Gehen Sie voraus“, sagte sie einladend, weniger fordernd. Ja, vorausgehen. Er konnte nicht nur in realer, physischer Hinsicht vorausgehen und ihr zeigen, wo ihr Ziel auf diesem Schiff war, sondern würde es auch in übertragener Hinsicht tun können. Sein Geist war ein Überbleibsel aus einer weniger konformierten Zeit, das unterschied ihn von anderen, die sie bislang auf den Schiffen betrachtet hatte. Hatte er schon einmal mit dem Gedanken gespielt vorauszugehen? Beispielhaft zu sein, reflektierend? Seine konformierten Kollegen zu hinterfragen? Er tat es. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht in Monaten, vielleicht in Jahren. Und vielleicht würde sein Weg mit einem Schritt heute anfangen, wenn er sich auf ihre Einladung einließ.

Die Gefühle in Sedrael konkurrierten stark. Nun war es also ohne ihr Zutun passiert, dass das Unglück anderer ihr letztlich eine Form von Freiheit verschafft hatte – ein eigenartiger Gedanke, der nicht weniger paradox schien als Sedraels im Nachhinein kläglicher Versuch, das Unglück anderer durch eigenes Unglück auf Firrerre zu verhindern. Eigenes Glück durch Unglück anderer? Hinter Sedrael flatterte kurz etwas. Aber es war natürlich nicht das Unglück selbst, das ihr Glück verschafft hatte, nein. Dieses bereitete ihr in keinster Weise eine Freude. Doch es war in diesem Fall die logische Folge gewesen. Schließlich war es nur logisch, dass die Beseitigung eines Zustands, den sie als sehr unzufriedenstellend empfunden hatte, ihr in gewisser Weise auch positive Gefühle abringen konnte. Das änderte nichts daran, dass sie der Art und Weise oder der Handlung, die das letztlich veranlasst hatte, widersprach. Aufs Schärfste widersprach. Es würde sie verfolgen, lange genug noch. Aber die Macht hatte so entschieden, sie hatte entschieden, dass Sedrael, dass niemand die Firrerreo retten sollte und dass ihr Versuch, das zu tun, eine Irrfahrt durch fremde Gewässer gewesen war, in denen sie nie hätte sein sollen. So war es mit der Macht. Sie war nicht verständlich, sie dachte in anderen Dimensionen als ein humanoides Wesen. Sofern sie so etwas Profanes wie Denken überhaupt tat. Denken war ein intelligentes Konstrukt, die Beschreibung eines Zustands, der im stetigen Reflektieren bestand – also etwas, das die Macht als ultimative Existenz, als Anfang und Ende von allem, natürlich nicht brauchte und im Zweifel auch gar nicht konnte. Die Macht dachte nicht, sie ließ denken. Von anderen. Von Sedrael, von Rupert Donnovan, ja selbst von Nigidus. Sie probte und testete. Sedrael hatte den Test ihres Gespürs nicht bestanden und die Macht hatte ihr nun vor Augen geführt, dass sie beim Versuch, die in unbekannten Lettern beschriebenen Seiten der Macht zu lesen, gescheitert war. Ebenso wie Nigidus vor langer Zeit bei diesem Versuch gescheitert sein musste und nun versuchte, die unleserlichen Symbole auszulöschen und sie durch ihre eigene, krakelige Handschrift zu ersetzen. Nun würde aber auch Nigidus irgendwann erkennen müssen – so wie Sedrael es mittels Firrerre erkannt hatte –, dass sich die Lettern nicht ändern ließen. Sie ließen sich nicht überschreiben, nur weil sie einem unangenehm waren. Man konnte sie diskutieren, man konnte sie interpretieren. Aber ihre tatsächliche Existenz abseits der Interpretation änderte sich dadurch nicht. Sie waren da. Sie waren Naturgesetze. Man konnte sie vielleicht mit genügend Energieaufwand vorübergehend außer Kraft setzen, aber sie würden sich durchsetzen. Bei jedem. Jeder, der versucht hatte, sich dagegen aufzulehnen, hatte am Ende den Rückstoß gespürt – und je stärker man es versuchte, desto mehr wurde man am Ende zertrümmert. Actio und Reactio.

Die Geschichte war voll von solchen, die die Macht herausgefordert hatten. Von Dunklen Jedi und von Sith. Sie alle waren am Ende gescheitert, zerschmettert nicht von der Macht, sondern nur von ihrem eigenem Gottkomplex, mit dessen Hilfe man das Pendel mit enormem Kraftaufwand in die eine Richtung drücken konnte, aber irgendwann wurde die Last des Pendels so schwer, dass man es nicht mehr aufhalten konnte, in Gegenrichtung mitgerissen wurde und am Ende vor den eigenen, zuckenden Trümmern des eigenen Körpers und Geistes stand. Wer die Macht manipulierte, der schaufelte im Boden nach Gold ohne zu erkennen, dass er am Ende nichts fand und nur sein eigenes Grab gegraben hatte. Und wer die Macht im Lot hielt, dem wurde das Gold am Ende einfach so überreicht. Jedi… nein, nicht unbedingt Jedi, aber… rechtschaffene Machtbefähigte gingen in der Macht auf, fanden Frieden. Finstere Streiter und Manipulatoren brannten dagegen nach ihrem Ende nur in ihrem eigenen Fegefeuer, Jahrhunderte, Jahrtausende lang, zerfressen, vernarbt und in ständiger Unrast. Jeder Befähigte kannte die Überlieferungen. Irgendwo nicht weit von Firrerre war ein solcher Geist vor kurzer Zeit gefallen und hinterließ ein schauerliches Leuchtfeuer aus Hass und Flüchen. Und dennoch traten immer wieder Personen diesen Weg an. Den Beweis zu erbringen, dass Naturgesetze Lügen waren und man sie formen konnte. Doch diese Pesonen waren nur wie Kinder, die ihre Augen bedeckten und dann glaubten, sie seien verschwunden. Waren sie deswegen verloren? Nein. Nicht alle. Man konnte ihnen zeigen, dass sie nicht verschwunden waren. Man konnte ihnen die Hände von den Augen nehmen, um ihnen zu zeigen, dass sie immer noch hier waren. Vielleicht wollten sie es nicht hören, nicht akzeptieren, aber die Verleugnung war kein Zustand, der von Dauer war. Irgendwann stach die Erkenntnis zu, langsam vielleicht, aber irgendwann geschah es. Wer wusste das besser als Sedrael selbst in diesem Moment? Die Inquisitorin war ihr Mittelsmann gewesen zu erfahren, dass Firrerre nicht gerettet werden konnte, nicht gerettet werden sollte, nicht gerettet werden durfte. Und so war es denn. Die Frage war, bis wohin das Pendel nun ausschlagen würde. Bei Sedrael würde das nicht weit sein. Sie hatte schließlich keinen Erfolg bei ihrem Versuch gehabt. Sorgen machte sie sich eher um Nigidus. Nicht Sorgen. Sorgen war das falsche Wort, eigentlich im Gegenteil. Früher oder später würde es nur noch eine kleine Berührung benötigen, um das Pendel zum Umschlagen zu bewegen – und es würde nichts geben können, das ihre Gegenspielerin dann noch tun konnte. Außer es zu verleugnen. Und Verleugnung war kein Zustand, der von Dauer war.


--> Atrisia
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