#10
Lumi'ell legte ihren Kopf nachdenklich zur Seite, strich sich die fallenden Haare glatt, die sich aus dem Haarband ihres Zopfes gelöst hatten und beobachtete die Reaktion der Nachtschwester aufmerksam. Dieser Planet hatte eine eigenartige Art, Personen zusammen zu führen. Lumi'ell öffnete ihre Augen weit, so dass sich ihre Wimpern in Richtung Himmel erhoben, dort wo sie selbst gerne sein wollte. Fern von hier, diesem Jetzt. Das Glucksen, die Worte, der Schwester bestätigten die Eigenartigkeit dieses Momentes, den Dathomir erlaubt hatte.

"Gethzerion hat mich nicht geschickt," verbot Lumi'ell direkt und erhob ihren Kopf in eine gerade Position. Dieser Name brannte. Sollte sie sich setzen? Sollte sie sich wirklich setzen? Das Feuer war warm und lud sie ein. Die ihr fremde Nachtschwester lud sie ein. Es musste eine Schwester sein, wenn sie so begrüßt wurde. Doch Lumi'ell kannte diese Frau nicht. Dabei kannten sich alle Schwestern untereinander. Sie musste vor ihrer Zeit gegangen sein oder zu einer Zeit, wo sie selbst noch zu jung war, um alle Namen zu kennen. Die Fremde hatte sie zurecht erkannt. In ihrem Angesicht stand ihr Herz, welches Furcht kannte.

Lumi'ell war nicht Gethzerion und auch nicht mehr so, wie die anderen. Ihre Furcht hatte sie angetrieben und zur Flucht verleitet. Eine Hexe, die Furcht kannte, war unbrauchbar. Hexen fürchteten nicht einmal die Höllen, sondern beschworen jede Magick. Lumi'ell war keine freie Hexe mehr, sondern viel mehr eine Verlorene zwischen verschiedenen Wegen aber dieser Nicht-Weg war eben ihr Weg. Sie hatte gewählt und war geflohen. Sie hatte nicht mehr versucht, ihren Weg im Clan zu finden. Nicht mehr versucht, Gethzerion zu stellen und ebenso wenig hatte sie versucht, etwas anderes aus sich zu machen. Vor der Fremden stand noch immer eine Nachtschwester, die schlicht ihren Clan verlassen hatte. Lumi'ell konnte nicht aufgeben, was sie derzeit noch war. Eine Schwester der Nacht, zwar eine fürchterliche Hexe aber sie war immer noch eine Hexe, die Magick besaß. Und das war vorerst ausreichend, musste ausreichend sein. Die fremde Schwester wusste ziemlich schnell, die richtige Deutung zu ziehen. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass man Lumi'ell ihre Entscheidungen direkt ansah. Die Flucht war ihr gefolgt und hatte sie gezeichnet. Mit einer Bewegung griff sie zum Moos, riss dieses von der Wunde, die inzwischen geschlossen war und warf das blutrote Moosfleisch weit weg von sich. Ihre Fingernägel hatten sich hineingegraben, so dass sich ihre Fingerspitzen mit dem roten Moosblut verfärbten. Das Stück Moos kroch über den Boden und suchte sich einen Baum in der Nähe. Wie vieles auf Dathomir lebte es, und es lebte anders, als man erwarten würde. Doch Lumi'ell kannte ihre Welt. Sobald das Moos sein Werk getan hatte, musste es entfernt werden.

Noch war es nicht an der Zeit für viele Worte. Auch wusste Lumi'ell nicht, wie sie richtig antworten sollte. Sie kannte diese Schwester nicht. Jemanden nicht zu kennen, war eine Gefahr oder konnte sich zu einer Gefahr entwickeln. Die Nachtschwestern liebten ihre Isolation und die Furcht vor dem Fremden war stark, denn sie waren immer nur Nachtschwestern gewesen. Sie kannte die Mythen und Legenden von der Zeit vor ihrer Zeit. Doch diese Schwester hatte sie richtig gelesen, erwies sich nicht als feindlich und wirkte sogar einladend freundlich. Doch genau dies konnte eine Falle sein. Hexen konnten freundlich wirken, um eigene Ziele zu verfolgen. Gethzerion tat dies. Andere Nachtschwestern taten dies. Regeln der Vorsicht mussten beachtet werden, denn nun ohne den Schutz der Schwesternschaft, war sie allein auf sich gestellt und konnte nicht mehr auf den mächtigen Schutz der Gemeinschaft bauen. Leben war keine Entschuldigung auf Dathomir, sondern schlicht Verpflichtung. Ihr Überleben war ihre Rache an Gethzerion, die nicht sah, was wirklich in ihr vor sich ging. Etwas überschnitt sich. Die fremde Schwester vor ihr kannte Gethzerion und ihre Worte deuteten darauf hin, dass auch sie die Nachtschwestern verlassen hatte, weil sie nicht zurückkommen würde. Das Chaos der Unsicherheit fütterte jene Dämonen, die Gethzerion dienten. Lumi'ell fand eine gewissen Hauch an Freiheit darin, dass sie in diesem Augenblick vor einer Schwester stand, die ebenso den Clan verlassen zu haben schien. Ihr eigenes Herz war erleichtert, dass die Dominanz der Gemeinschaft nicht so mächtig war, um jede Schwester zu halten. Es gab noch Widerstand, freien Willen und eigene Wünsche, die nicht allein aus der Gemeinschaft geboren waren. Freiheit war möglich, auch wenn man zunächst eine Gefangene von Dathomir war.

Mit bemühten Schritten näherte sich Lumi'ell weiter und nahm den zugewiesen Platz ein, indem sie ebenso abkniete und ihre blutverschmierten Finger zum Feuer richtete, um sich zu wärmen. In der Tat fror sie, was man inzwischen auch sehen konnte, da ihre Muskeln leicht zitterten aber der Willen einer Nachtschwester verbot diese Schwäche, so dass der Frost sie nicht überwältigte. Das Feuer half ihr. Es war fast eine Erlösung nach ihrer überstürzten Flucht. Das Schicksal war manchmal ein großes Theater. Es hatte zwei Figuren zusammengebracht, auf einer gemeinsamen Bühne aber ohne ihnen eine Lösung zu offenbaren. Lumi'ell wollte sprechen, sich offenbaren aber zögerte noch immer. Es fiel ihr schwer, einfach zu antworten, etwas zu sagen, um diesem Moment mehr Sinn zu geben. Sie war froh, vorerst frei zu sein. Diese Freiheit konnte sie nicht beschreiben. Die Nachtschwester lächelte und blickte die Fremde aufrichtig an. "Danke," bedankte sie sich höflich mit ihrer kratzigen Stimme, die lange kein Wasser mehr erlebt hatte. Der Durst war ebenso verdrängt worden, wie jedes andere Signal ihres Körpers. Erst jetzt zeigte sich, dass sie erschöpft war und Ruhe brauchte. Aus der knieenden Position sank sie zurück und saß nun auf dem Boden. "Ich ...," versuchte sie eine Antwort zu finden, etwas zu sagen, weil sie sich schuldig fühlte, etwas in Anspruch zu nehmen, was eine andere Schwester bereitet hatte. "Gethzerion," war die Antwort, die sie herausbrachte. "Ich kann nicht mehr an einem Ort mit dieser ...," erklärte sich Lumi'ell. "Ich musste fliehen," fasste sie zusammen, ohne klar zu benennen, was der Fluchtgrund war. Sie wollte sich diesen Gedanken nicht stellen und ebenso wenig wollte sie eine noch-fremde Person darin einweihen. Es war ihre Geschichte, die vorerst allein ihr selbst gehörte. Es war auch egal für den Moment. Sie war nun hier und das eigene - Warum - war derzeit nicht von Bedeutung für die Fremde. Schwäche konnte bestraft werden und Lumi'ell wollte diese Schwäche nicht zeigen, da sie die anderen Schwestern bereits dafür verurteilt hatten. Die dämonische Angst kroch in ihrer Gesicht, während der Moment ihr Ruhe verschaffte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es kein wahres Zurück gab. Sie war nun auf der Flucht, egal, was sie noch tat. Eine Nachtschwester ohne Schwestern war sie. Allein, vielleicht für immer allein, und so machte sich diese Ungewissheit in ihrem Bewusstsein breit, so dass sie mit ihren trockenen Augen, die fremde Nachtschwester anblickte. Hektisch blinzelte Lumi'ell, da sie sich selbst kaum noch wach halten konnte. Doch einfach ohne eine Erkenntnis einzuschlafen, wer diese Fremde war, war eine Gefahr, denn es musste einen Grund geben, warum auch sie hier war. Dieser Grund musste erforscht werden, bevor sie überhaupt schlafen dürfte. Gefahren mussten ausgeschlossen werden. Auch wenn Lumi'ell nicht mehr von einer ernsten Gefahr ausging, denn ansonsten hätte sie sich nicht niedergelassen. "Warum bist du hier, Schwester?" - war die entscheidende Frage, die Lumi'ell stellte; auch um von sich selbst abzulenken. Das Feuer war noch immer eine Wohltat, so dass sie sanft noch ein wenig näher heranrückte aber nicht zu nahe, um sich selbst zu verbrennen. Noch immer hatte sie nicht ihren eigenen Namen genannt, denn in ihrer Kultur besaßen Namen Macht und man nannte nicht einfach seinen Namen, ohne etwas damit zu beschwören. Namen waren, wie Gesang und die Stimme, von Bedeutung. Deswegen hielt sich Lumi'ell zurück. Denn jeder Name einer Nachtschwester verwies auf eine tiefe Eigenschaft ihrer Seele.
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