#71
Der laue Wind in der Schlucht blies ihr kühl entgegen. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie tatsächlich in die eine Richtung gegangen war. Zumindest so lang, bis alles außer Sichtweite war, bis sie nichts mehr von dem fühlte, was gerade geschehen war. Abseits davon, dass ihr Hals an den offenen Stellen brannte, gegen die sie noch immer ihre linke Hand presste, drückte mit der anderen die Sachen, die die trug, gegen ihre Brust. Als sich ihre Sicht verengte, schleppte sie sich voran, etwas seitwärts in Richtung der turmhohen Felswände. War sie denn zerstört? Ihrer Hoffnungen beraubt? Das hätte bedeutet, dass sie sich ihrer etwaigen Hoffnungen überhaupt bewusst hätte sein müssen, so sie überhaupt wirklich vorhanden waren. Das Zusammensein mit Reah war alles in allem keine Frage von Hoffnungen gewesen – denn Hoffnung hätte schlussendlich bedeutet, dass sie dem Monster die Erwartung eingeräumt hätte, sie würde es beseitigen können. Das war allerdings keine Hoffnung, keine Erwartung, die sie jemals besessen hatte. Unklar war ihr eigentlich nur, ob das, was jetzt geschehen war und was sie getan hatte, auch wirklich das war, was hatte geschehen sollen.

Allerdings hatte sie daran im Moment nur wenige Gedanken zu vergeben, während ihre glitschigen Finger immer wieder von ihrem Hals rutschten. Sie spürte, wie ihr Körper wankte und die Geräusche gedämpfter, hohler wurden als normal – ein schlechtes Zeichen, daher stolperte sie an den Rand der Schlucht, in der sie war, wo ein größerer, etwas glatter wirkender Fels vermutlich oben von den Canyons vor vielen Jahren herabgebrochen war und nun unten zwischen den beiden Felsvorsprüngen in der breiten Schlucht lag. Sie hielt sich an dem Fels fest, lehnte sich dann mit dem Rücken gegen ihn und glitt daran auf den Boden hinab. Nicht bequem, aber als sie dort schließlich auf dem staubigen Boden saß, mit dem Felsen als improvisierte Lehne für ihren Rücken, war es dennoch besser als weiter den Weg zu gehen und irgendwann in der Ödnis der Wüste zu landen, aus der sie gestern gekommen war. Dort saß sie eine Weile, sammelte ihren Atem und blickte auf die Felswand gegenüber, ziellos, ohne einen Punkt mehr als ein paar Sekunden vor Augen zu haben. Die Sachen waren ihr aus der freien Hand gefallen, lagen nun planlos neben und zum Teil auf ihr, doch erst nach Minuten begann sie es zu realisieren, blickte auf die Einzelteile hinab, die dort wie der Scherbenhaufen eines zertrümmerten Spiegels chaotisch verteilt lagen. Mühevoll, Stück für Stück war alles wieder zusammenzusetzen. Unmöglich vielleicht nicht, doch die Splitter im Spiegelglass mochten immer bleiben. Ungeschickt sammelte sie mit ihrer schwächeren Rechten die einzelnen Bestandteile des Medi-Kits ein, ein paar Verbände, Pflaster, Desinfektionsspray, legte sie in ihren Schoß. Zumindest alles, was sie noch brauchen konnte für den Moment. Erst dann atmete sie ein Mal durch, um sich zu sammeln, stellte den Versuch ein, gegen ihren Hals zu drücken und senkte die Hand, schob diese langsam in ihr Sichtfeld. Dort betrachtete sie ihre bluttropfende Hand einen Moment lang. Es war ein fast surrealer Anblick. Natürlich kannte sie es, das Blut anderer Personen an den Händen zu haben, das war als Heilerin manchmal gar nicht zu vermeiden. Es war auch nichts, mit dem sie nicht umgehen konnte. Weitaus Schlimmeres hatte man dabei schon gesehen. Doch mit dem Anblick der eigenen Wunde war schwieriger umzugehen – nicht dadurch, dass ihr dabei übel wurde, sondern sie erkannte, wie beschäftigt Geist und Körper schlichtweg damit waren, weiterhin zu funktionieren. Die Ruhe fehlte. Ihre Augen registrierten, wie ihre Fingerspitzen dezent zitterten. Doch sie musste sich zwingen, es half nichts. Der Kopf sagte ihr dagegen, sie müsse weiter fortlaufen, nur weg von dem Biest, das dort in der Höhle hauste. Aber der Körper wollte ungern weiter weg, ebenso wie abseitige Kräfte, die sie daran zu hindern schienen. Es war bequem, einfach. Und sie war wütend auf Reah – dass sie immer wieder in ihre zwingenden Fänge des Monsters verfiel, nicht einfach das war, was sie damals vereinbart hatten. Eben das zu sein, was sie waren. Die Hexe log durchaus – vielleicht nicht ihr gegenüber, aber beständig sich gegenüber, wenn sie sich einredete, dass die Kräfte, die über sie hereinbrachen, kein Zwang und keine Änderung waren. Nur war der Geist womöglich schon so daran gewöhnt, dass er davon nichts mehr realisierte.

Zähflüssig umspielte das Rinnsal rasch ihre Schulter, während sie einen Verband zweckentfremdete und versuchte, ihre Hand nutzbarer zu machen, indem sie diesen als Handtuch nutzte und daran herumwischte, bis nur noch der rötliche Kupferschimmer auf der Haut lag, der sich dann jedoch nur noch abwaschen lassen würde. Das verbesserte den Griff, den sie mit der Hand hatte, wieder etwas, allerdings wollte sie sich auch nicht mehr Zeit nehmen als nötig, begann dann, den Kopf etwas seitwärts zu neigen und die Klauenspuren an ihrem Hals beidhändig zu desinfizieren. Sie zuckte, presste die Lippen aufeinander, als der beißende Schmerz dabei ihr ins Gehirn drosch, dort loderte als plane sie gerade, die Wunde mithilfe eines feurigen Stockes auszubrennen. Irgendwann merkte sie, dass ihre Hände wieder unbeschäftigt in ihrem Schoß lagen und sie dort wieder zu zittern begannen, nachdem sie ihr Programm, ihre Routine beendet hatte. Dunkle, kreisrunde Flecken im Staub in ihrer Nähe, manche größer, manche kleiner, waren inzwischen eingetrocknet und zeichneten den Ort für die Ewigkeit, selbst wenn irgendwann die Ödnis alles verschlingen mochte. Sie fühlte, wie die Welt jetzt auch schon im Sitzen zu wanken begann und ihre Augenlider schwer wurden, daher lehnte sie ihren Hinterkopf wieder zurück, nach hinten gegen den schweren Fels, der ihren Rücken aufrecht hielt. Der Wind in ihrem Gesicht schien deutlicher zu werden, klarer. Es schien aber warm… und doch in der Tat nur wie ein Schein. Keine echte Hitze, eine gefühlte. Eine Hitze, die hier nicht brannte, sondern zu gefrieren schien. Ihr Kopf blickte in Richtung des Weges, aus dem sie gekommen war… und dann stand dort plötzlich jemand. Eine verschwommene, unklare Silhouette, doch eindeutig war es eine Person. Es gelang Sedrael nicht, ihren Blick zu schärfen, aber in dieser Richtung lag nur eines. Nur eine Person, die ihr gefolgt sein konnte.
„Kommst du also, um dein Werk zu vollenden?“, fragte sie Reah mit leiser Stimme, ihr Körper fühlte sich schwach und sie glaubte nicht, dass sie jetzt aufstehen konnte, um sich noch einmal gegen einen Angriff der Frau zu verteidigen. Doch so plötzlich, wie die Umrisse des Körpers aufgetaucht waren, verschwanden sie auch wieder. Sedraels Kopf wankte etwas, sie blinzelte schwer mehrfach hintereinander. Irgendetwas drang in ihre spitzen Ohren, Musik? Aber ihr Geist fühlte sich dämmrig an, und der rational denkende Teil in ihr begann darüber nachzudenken, dass sie halluzinierte – möglicherweise infolge des Blutverlustes. Vermutlich war Reah nicht hier, entschied sie. Ein Streich ihres Körpers. Allerdings drang auch irgendetwas um sie herum in sie vor, irgendein Gefühl, dass sie tatsächlich nicht allein war. Sie spürte zwar nicht Reah, aber etwas anderes… etwas sehr anderes. Der Wind schoss ihr noch mehr Wärme und Staubpartikel ins Gesicht, so dass sie ihre Augen verengte und ihre Kapuze enger an sich schob, um sich besser davor zu schützen. Doch vor dem, was war, schien der Schutz nicht möglich. Die Hitze entbrannte einen Stein in ihrer Nähe, ein Flammenmeer vor ihr, in dem sie etwas Bekanntes zu sehen vermochte. Es war das Wesen aus der Vision, die flammende Höllengeburt, die dort plötzlich an ihrer Seite gestanden und sie in Brand gesetzt hatte. Sie war hier, jetzt. Eine Wesenheit aus einer anderen Welt, war nun hier, hatte sie aufgespürt. Nur das Gesicht der Frau schien hier zu sein, losgelöst vom Feuerkörper, der nach ihr gegriffen hatte.
„Was bist du? Gib dich zu erkennen!“, forderte sie das Inferno mit langsamer, müder Stimme, aber durchaus trotzig auf. Denn sie konnte nicht mehr weglaufen, was auch immer mit ihr geschah, sie musste sich dem stellen. Ihr Körper war nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Und vielleicht lag es daran, dass ihr die berechtigte Angst genommen war, denn egal, was sodann passieren würde – am Ende war es, wie die Macht es wünschte. Denn letztlich… war das allein, was zählte. Vielleicht bedeutete das Scheitern an Reah genau das. Selbst wenn es am Ende das bedeutete, dass ihr Schicksal aus der Vision sich hier wiederholte.
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