#66
Erneut mussten sich Gedanken sortieren. Bei den ersten Worten Reahs stach irgendetwas in Sedraels Innerem, als wusste sie in dem Moment, dass etwas falsch war. Anders. Schwer zu beschreiben, aber der Tonfall war nicht das, was sie erwartet hätte. Zunächst schien es unklar zu sein, was ihre Gegenüber meinte – was sollte sie ihr nicht glauben? Irritiert blinzelte sie zunächst. Warum sie hier waren? Reahs Rolle in all dem? Es war keine Frage des Glaubens – mehr eine Frage des Vertrauens. Es spielte eigentlich also keine Rolle, ob die Hexe gelogen hatte oder nicht. Darüber hinaus… Lüge? Ein dehnbarer Begriff. Manche mochten das Verschweigen, dass sie bereits mit dem Schädelmenschen hier gewesen war, als solche bezeichnen. Es schien zu wichtig zu sein, um ausgerechnet diesen Teil auszusparen, als sie davon erzählt hatte. Welchen Grund also hatte es gegeben? Darüber ließ sich spekulieren. Sedrael glaubte ihrer Gegenüber also durchaus das, was diese ihr bisher erzählt hatte – sie hatte allerdings keinerlei Grund, der Frau blind zu vertrauen. Dafür war zu Beginn zu viel zerstört worden. Nicht die Glaubwürdigkeit, Reah hatte damals am Ende genau das getan, was sie angekündigt hatte. Das machte es nur nicht weniger verachtenswert und bedeutete gerade nicht, dass die Hexe ein klares Urteil besaß, dem sich Sedrael anschließen konnte.
„Mach mir nicht zum Vorwurf, dass du nicht offen bist, Reah. Vertrauen verdient man sich. Es ist nicht einfach da.“
Doch es war nur der Auftakt gewesen. Erst dann brach die eigentliche Antwort auf sie herein. Die Fülle gieriger Vorwürfe, die sich Bahnen suchten; das Gift, das in den Venen pulsierte und irgendwohin abgesondert werden musste. Dieses Mal konnte es sonst niemanden treffen. Sofort fühlte sich das Wesen in die Ecke gedrängt, in einer Verteidigungsposition, die es mit Klauen und Zähnen in der Offensive zu bewältigen versuchte. Dass Reah diese Worte so angreifend aufgenommen hatte, verstand Sedrael zunächst nicht, sah sie mit geöffnetem Mund weiter an. Von einer normalen Person hätte sie erwartet, dass diese sich nun erklärte – berichtete, was es mit dem Gesehenen auf sich hatte, um verständlich zu machen, wie die Dinge lagen. Das war der leichte, der allzu einfache Weg, welcher nur beschritten werden musste. Doch Reah Nigidus erklärte nicht. Natürlich nicht. Vielleicht die Eigenschaft dieser Person, die sie am schwierigsten machte. Anstelle also Dinge zu bereinigen, mit ein paar einfachen Worten, nahm gekränkter Stolz die Vormacht ein, keifte und schlug aus, um die Narben im eigenen Gesicht zu verbergen und die Aufmerksamkeit abzulenken. Angriff war die beste Verteidigung.

Und tatsächlich packte die Frau schließlich auch ihr Handgelenk, erst in einem festen Griff, dann aber gar mit einem Druck, der die Sephi überrascht ächzen ließ, als die Knochen grob aneinandermahlten. Sie zog die Augen zusammen, versuchte sich aus dem Griff zu lösen, doch erfolglos. Erst nach einer Weile gab Reah sie wieder von sich aus frei. Sedrael betrachtete ihr Handgelenk einen Augenblick lang mit großen Augen, so als wäre daran irgendetwas kaputtgegangen, zunächst schlicht überfordert von diesem plötzlichen Moment. Was… was glaubte diese Person eigentlich, wer sie war? Psychischer Schmerz, indirekt und vielleicht nicht einmal absichtlich verursacht war das eine. Doch jetzt war es ganz gezielt gewesen, die Frau hatte ihr dieses Mal wehtun wollen. Es gab keinerlei andere Beweggründe, Motive, die entlastend hätten aufgeführt werden können. Das war… neu. Nicht in der barbarischen Qualität, wie sie das Monster an dem bedauernswerten imperialen Offizier gezeigt hatte – aber es waren erste Indizien, dass auch das nicht mehr unmöglich schien. Der Gedanke, sich gegen den Hohn der Frau zu wehren, war dagegen nicht neu, sondern schon lange aus der Frustration gereift. Das hier, es war nur der letzte Tropfen. Alles kam hier gerade zusammen, und das nach dieser Nacht. Wo Sedrael bislang immer in einer Position der Schwäche gewesen war, empfand sie es dieses Mal als etwas anders – nicht unbedingt zum ersten Mal überhaupt, das war bereits auf Firrerre selbst gewesen. Aber jedenfalls zum ersten Mal seit Firrerre. Dieses Mal gab es kein monströses Raumschiff, das Reah im Rücken hatte. Keine Wachen, keine Soldaten. Kein Lichtschwert. Nur sie beide. Reahs Zustand war etwas besser als in der Nacht noch, ein wenig zumindest. Sich zu wehren… war kein Selbstmord mehr. Zurückstecken und gefügig sein, war anstrengend. Insbesondere bei dieser Verachtung, die immer wieder unterschwellig aufblitzte. Sedrael versuchte, langsam zu atmen, es gelang jedoch noch immer nicht. Etwas in ihr nahm Oberhand. Das Gefieder, das sich hier in der aufgehenden Sonne der staubigen Einöde wohlig beschienen ließ, raschelte kurz, gut genährt durch das Kratzen der attackierenden Worte und der Disziplin, die Vieles hatte so hinnehmen können. Irgendwann jedoch war zu viel schlichtweg zu viel. Immer wieder hatte man sie gereizt. Sie ballte die Faust. Ein Teil von ihr wollte der Hexe damit direkt ins Gesicht schlagen. Die Frau sollte einfach endlich aufhören, ihr Geschwätz und ihre Überheblichkeit, ihre Unklarheit, ihre Demütigungen. Gepresst atmete Sedrael noch immer aus, weiterhin angespannt von den Eindrücken aus den diabolischen Szenen der Nacht. In der Ferne brannten die ersten Sonnenstrahlen auf den Staub wie feuerscheinende Säulen, die die Erde verbrannt hatten. Lanzen, die aus dem Himmel hinabstießen und Unheil gebracht hatten. Firrerre. Der Gedanke überschritt den einen Punkt, der sie noch hätte zurückstecken lassen können. Ihre Hände griffen nach den Konturen des korrupten Kadavers, der neben ihr saß. Sie fanden den Stoff, der als Leichentuch über dem Aas lag, irgendwo in der Nähe des Schlüsselbeins und zerrten den Oberkörper näher zu sich heran, so dass ihre Köpfe nur noch ein paar Zentimeter voneinander getrennt waren, zwang die Frau damit, ihr direkt ins Gesicht zu blicken.
„Du denkst, du kannst mit mir umspringen, wie du möchtest?“, fauchte sie ihr hart entgegen, keine elaborierten, sorgfältig abgewogenen Sätze. „Ich habe nicht vor, mir alles von dir bieten zu lassen. Mir reicht es langsam.“
Vielleicht testete der Dämon in ihrer Gegenüber aus, was er sich alles erlauben konnte. Bislang hatte sie sich alles erlaubt und die Sephi hatte es toleriert, im Rahmen des Notwendigen. Doch der Spiegel hatte bereits mit einer ersten Wunde Risse erhalten. Die Wunde, sie war noch immer da, quoll jetzt wieder dickflüssiger hervor wie die Innereien aus der zerstörten Planetenkruste. Hatte die Frau all das schon wieder vergessen? Und glaubte sie allen Ernstes, dass Sedrael es einfach vergessen hatte? Nein, die Hexe tat so als wäre es nie passiert. Als hätte Sedrael irgendeine Form der Obligation, dieser Frau überhaupt nur irgendetwas zu glauben oder ihr gar zu vertrauen. Nichts hatte Reah verstanden. Gar nichts. Firrerre war ihr gleichgültig geworden, sie haderte nicht damit. Scherte sie nicht. Keine Erkenntnis, keine Anzeichen davon, dass sie etwas reute. Und jetzt wollte sie ihre Überlebende dazu bringen, ihr zu vertrauen. Bizarr vernebelter Verstand. Die Sephi schüttelte nur kurz den Kopf, ohne den Blick ihrer blauen Augen von dem Kadaver zu nehmen, sämtliche Gesichtszüge angespannt.
„Du sitzt hier, faselnd von Glauben und Lügen. Du hast meine Heimat verbrannt. Und es hat dich nie gekümmert, was es für mich bedeutet und was ich davon halte. Warum interessiert es dich also jetzt plötzlich, was ich glaube?“
Es ergab einfach keinen Sinn. Aber vermutlich suchte der Abgrund auch nie nach dem Sinn. Er war schlicht da, suchte sich seine Beute und labte sich zufrieden daran. Doch innerhalb von Reah steckte nicht nur der Abgrund, sondern eben auch noch das fleischliche Wesen, an dem sich gelabt wurde. Aber die Dunkelsicht schien den Unsinn nicht zu enttarnen, vielleicht weil die Materie sich die Frage gar nicht mehr stellte. Nicht mehr stellen wollte. Wie konnte sie also die Frage beantworten, die sie gar nicht kannte? Ein immer größerer Teil in ihr war es leid, sich damit zu befassen. Sich überhaupt mit der Hexe zu befassen. Nein, das war es eigentlich nicht. Sie war nur frustriert davon, dass Reah einfach nichts verstand. Als lebe sie in ihrer eigenen Gedankenwelt, in einer Schneekugel, die losgelöst von der realen Umgebung existierte. Hin und wieder schüttelte draußen jemand und sorgte für ein Spektakel im Inneren, ließ dort das Chaos frei – doch erlaubte es nur innerhalb eines klar begrenzten Raums. Ohne auf das große Ganze einwirken zu können. Natürlich… mochte es auch genau umgekehrt sein. Dass die Sephi selbst in ihrer eigenen Kugel gefangen war. Doch war das überhaupt möglich, wenn das, was sie lauschte, gerade nicht Teil des Spektakels war, sondern nur die Worte desjenigen, der sie hielt? Schwerlich fixierte sie ihren Blick wieder auf die Frau. Vermutlich war es die Kombination aus beidem. Und alles in allem hatte auch genau das dazu geführt, dass sie jetzt so hier waren, wie sie es waren – vor allem aber gemeinsam hier waren. Der Ärger über die Frau verrauchte dadurch langsam im Nebel der Gedanken. Sedraels verkrampfte Armmuskeln entspannten sich wieder ein Stück weit.
„Fass mich nie wieder so an“, sagte sie dann, leiser als eben noch. Gerade so hörbar. Eine Forderung, selten geäußert bislang, doch hier war sie nötig. Das Wesen dort, was davon noch übrig war, sollte wissen, wo die Grenze des Zumutbaren für ihre Gefährtin war. Grenzen mussten gesetzt werden, ehe sie nicht mehr abgesteckt werden konnten. Hier waren sie erreicht.
„Hast du mich verstanden?“
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